Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Händen hielt, sich an sie lehnte, sie an sich presste, wie er es so oft getan hatte…
Und dann…?
Dann fiel er.
Taumelte nach hinten ins Nichts hinein und fiel in die Tiefe des Steinbruchs wie ein Stein.
20
I n Liberty Bells Blick stand blanke Angst geschrieben. Wie vorhin im Flur stand sie auch jetzt mit dem Rücken zu seiner Zimmerwand, als suche sie dort Sicherheit und Schutz.
»Ich will nicht hier sein«, flüsterte sie mit gepresster Stimme. »Bitte, Ernesto, was passiert hier?«
Ernesto griff nach seinem Schlüsselbund, der glücklicherweise auf dem zerwühlten Bett lag. »Ich erklär’s dir später. Erst mal bring ich dich hier raus.«
Erklären? Was wollte er ihr erklären? Er verstand es ja selbst nicht. Es war zu viel, zu viel, zu viel.
Seine Mutter. Natasha.
Und dann die Sache mit Flavio. Jadens merkwürdiger Unfall – und dazu die Angelegenheit mit Chazza, der – genau wie sein Vater – beim Santa-Clara-Steinbruch verunglückt war.
Hatten sie alle etwas gewusst? Hatten sie den Vergewaltiger, den Kinderschänder erkannt und mussten sie deswegen sterben?
Liberty Bells Atem hinter ihm klang flach, als fürchtete sie, sich durch ihre eigene Geräusche zu verraten.
Mit halbem Ohr hörte er, wie sein Festanschluss klickte. Sein Vater hatte eins der anderen Telefone im Haus aktiviert. Rief er die Polizei an?
Oder aber…
Wenn man die Telefonanlage abschaltete, klickten die einzelnen Anschlüsse ebenfalls. Mit einem Satz war Ernesto an seinem Apparat. Wenn sein Vater an der anderen Leitung sprach, erklang in seinem Gerät solange ein monotoner Besetztton, aber wenn die Anlage aus war, hörte man Stille.
»Verdammt«, flüsterte Ernesto tonlos und legte den stillen Apparat zurück auf die Basisstation.
»Was ist?«, erkundigte sich Liberty Bell drängend, aber Ernesto gab ihr keine Antwort.
Wo war nur sein Handy? Er durchwühlte seine Hosentaschen. Schemenhaft erinnerte er sich daran, das kleine Telefon vorhin unten im großen Wohnzimmer auf der Anrichte neben der Tür abgelegt zu haben, wie er es oft tat, wenn er nach Hause kam.
Plötzlich hörte er ein leises Geräusch, kaum wahrnehmbar, nur ein leises Summen in den Tiefen des Rampenhauses, das jedem anderen gar nicht aufgefallen wäre. Aber er wusste, was es bedeutete. Mit einem Satz war er am Fenster und sah, wie alle Lichter ausgingen, das Licht am Pool, das normalerweise türkises Licht durch die Büsche und Sträucher warf, dazu die Lichter auf der Veranda, die Gartenbeleuchtung.
Liberty Bell stieß einen leisen, entsetzten Laut aus. Sie presste sich noch fester an die Wand. Ernesto lief zu ihr und griff nach ihrer Hand. »Hey, hab keine Angst«, flüsterte er beklommen, aber er spürte, dass sie ihm nicht glaubte. Gar nicht glauben konnte.
Verdammt, sein Vater war querschnittgelähmt. Er war vom Bauchnabel an bewegungsunfähig, seit dem Tag seines Unfalls am Santa-Clara-Steinbruch. Er war damals – wie er es oft getan hatte – zu nah am Abgrund gegangen. Dr. Merrill liebte den Steinbruch, weil er so unberührt, so naturbelassen, so wild und zugewachsen war. Und das war ihm eben eines Tages zum Verhängnis geworden, nur zwei Monate vor der Geburt seines Sohnes. Und seit damals saß er reglos im Rollstuhl. Sein silberner Jaguar war verkauft worden, stattdessen waren teure, behindertengerechte Autos angeschafft worden.
Wie immer man es drehte und wendete: Sein Vater konnte keinesfalls in Flavios schmuddelige Behausung eingedrungen sein und dort… Nein, es war Unsinn! Nichts als Unsinn! Der zweite Beweis war die Sache mit Chazza Blume. Niemals wäre es Dr. Merrill möglich gewesen, dem blinden Musiker in die Wälder zu folgen und ihn dort den Steinbruch hinunterzustoßen! Ein völlig abwegiger Gedanke.
Außerdem gab es da ja noch Mr Horace.
Aber trotzdem…
Ernesto hatte das Gefühl, sein Kopf müsse jeden Moment platzen vor Verwirrung und Sorge. Ein heißer, pulsierender Ring aus Schmerz schloss sich um ihn.
Liberty Bell legte ihre Arme um ihn und drängte sich dicht, viel zu dicht, an ihn.
»Es ist… es ist so still da unten«, flüsterte sie.
Ernesto nickte. »Ich weiß«, sagte er. Mehr nicht. Leise schob er die Tür seines Zimmers auf. Schwarze Finsternis schlug ihnen entgegen. Der hohe Flur, die gesamte Galerie, die breiten Rampen, die normalerweise von kleinen, runden, in die Wand eingelassenen Lichtern erhellt wurden, alles lag komplett im Dunklen.
Ernesto kannte die Erklärung dafür. Die große, gut
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