Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ihrer geöffneten, rechten Hand lag noch immer das blutige Skalpell. Sie musste es aus Dr. Merrills Büro genommen haben.
Vage nahm Ernesto wahr, dass Liberty Bell bei ihm war. Er spürte ihre zitternde Hand auf seinem Rücken. War das alles nur ein Albtraum? Wenn es so war, wünschte er sich nichts sehnlicher, als endlich aufzuwachen…
»Ern… Ernesto?«
Zum zweiten Mal erklang die schwache Stimme seiner Mutter.
»Mom?«
Ernesto hob den Kopf, sein Gesicht war voller Tränen. Verschwommen erkannte er, dass seine Mutter mühsam versuchte, sich aufzurichten. Sie musste Natasha als Erste entdeckt haben – wenn es nicht SIE gewesen war, die die Haushälterin… Aber Unsinn, dazu hatte seine Mutter ja gar nicht die Kraft. – Aber was hatte sein Vater ihm vorhin gesagt? Dass er und Natasha die Sucht seiner Mutter einigermaßen unter Kontrolle hatten halten können. Hatte sie deswegen so oft über Natasha geschimpft? Immer wieder den Tag verflucht, an dem sie ins Haus gekommen war, herbeigeholt von seinem Vater, um seiner erschöpften Mutter mit ihm, dem neugeborenen Baby, zur Hand zu gehen? Oh Gott, wie lange ging das überhaupt schon?
In Ernestos Kopf tobte ein Gedankenkarussell, während Mrs Merrills Hände kraftlos in Richtung des niedrigen Chromgeländers griffen. Dabei stöhnte sie leise. Himmel!
»Warte, ich helfe dir, Mom«, flüsterte er, fuhr sich über das Gesicht und erhob sich. Er fühlte sich schwer wie ein Stein. Natürlich, er musste sich jetzt, da Natasha nicht mehr da war –, um seine Mutter kümmern, sein Vater war dazu nicht imstande.
Sosehr er auch seinen Vater verachtete, wie schlimm musste es sein, mitten in diesem Chaos hilflos im Rollstuhl zu sitzen und nichts aus eigener Hand tun zu können?
Und in diesem Moment sah er es. Sein Vater bedachte seine auf der Erde kauernde Mutter mit einem eigenartigen Blick. Seine dunklen Augen schienen sie sekundenlang zu durchdringen. Kein Leben war in diesen Augen, Ernesto hatte das Gefühl, niemals vorher einen so eisigen Blick gesehen zu haben.
Aber dann war der Moment schon vorbei, Dr. Merrills Miene entspannte sich und sein Blick war jetzt nur noch besorgt.
»Sondra …«, flüsterte er. »Ich verspreche dir, ich kümmere mich um dich. Ich kümmere mich um alles. So wie ich es immer getan habe…«
Aber – nein, halt – genau das war es.
Dieses Flackern.
Dieses Flackern in den Augen, während tief im Innern des betreffenden Menschen eine starke Gefühlsregung vor sich ging.
Es war nicht die Farbe der Augen. Es war nicht die Form der Augen.
Es war dieses Flackern, während die Seele des Betreffenden starke Gefühle empfand.
Glücksmomente. Wut. Hass. Oder Angst. Aber eben auch… Liebe.
Jedes Mal dieses Flackern. Den Bruchteil einer Sekunde bloß.
Und Ernesto wusste, dass er dieses Flackern nicht nur bei seinem Vater gesehen hatte.
Während er seine Mutter hochhob und in ihr Bett zurücktrug, war es ganz still. Eine Stille wie eine Wunde.
Flavio war gestorben. Jaden war gestorben. Und jetzt war auch Natasha tot…
Wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, fahre ich Rad… hatte Jaden gesagt. Aber er war nicht mit seinem Rad gefahren, obwohl er es dabeihatte. Stattdessen war er vor ein Auto gelaufen und gestorben.
Liberty Bell und sein Vater waren Ernesto wie stille Schatten gefolgt. Dr. Merrill knipste das Deckenlicht an und schaute sich im Zimmer seiner Frau um, als suche er etwas.
Mrs Merrill hatte die Augen weit geöffnet, die dunklen Pupillen in ihren hellen Augen waren riesig, wie so oft. Sie schwieg, aber sie starrte Ernesto unverwandt an, als… – Ja, als was?
Als versuche sie, ihn mit ihrem Blick zu bewachen? Als versuche sie – eine… Gefahr zu… bannen? Oder war dieser Blick nur Teil ihrer furchtbaren Krankheit? Ihrer Sucht, ihrer Abhängigkeit?
Ernesto hörte seinen Vater atmen. Die Atemgeräusche schwebten seltsam lastend durch den jetzt hell erleuchteten anthrazitgrauen Raum.
»Was müssen… wir jetzt tun? Wegen Natasha?«, fragte er leise, um diese eigenartige Stille zu durchbrechen. »Die Polizei anrufen? Und dann… Bartosz? Und müsste nicht jemand kommen und – einen Totenschein, oder wie das heißt, ausstellen?«
Dr. Merrill hob den Kopf. »Das. Werde. Ich. Tun«, sagte er leise. Mehr nicht. Mit einer seiner Hände fuhr er gedankenverloren über den antiken Nachttisch seiner Frau, der, bis auf eine Fotografie von Ernesto als Kleinkind, leer war. Genau dort hatten vorhin noch Medikamente gelegen. Mit einem
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