Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
sich.
Dr. Merrill sah ihn an. »Die Wahrheit? Du willst die Wahrheit wissen?« Plötzlich keuchte er. »Mein – Junge… Sie war es natürlich. – Sie hat den alten Mr Fabiani… getötet. Und jetzt erträgt sie es nicht mehr…«
Ernesto starrte ihn nur an. »Was redest du da?«, sagte er verwirrt. »Mom soll…? Was für ein Unsinn!«
Sein Vater lachte auf, es war ein furchtbarer Laut. »Unsinn? Nein, mein Lieber, das ist nicht das richtige Wort. Wohl eher… lächerliche, verachtungswürdige, ekelerregende… Liebe. – Oder das, was sie dafür hielt.«
Sein Gesicht hatte sich beim Wort Liebe schmerzhaft verzogen und Ernesto konnte sehen, dass er es nur unter Mühen aussprechen konnte.
»Sie hat es getan, Ern, um ihn zu schützen. Immer nur ging es um ihn, diesen blinden Irren. Sie hat ihn in Schutz genommen. Von jeher. Dabei war er es. Damals. Er hat die kleine Ruby Kyriacou – missbraucht. Und geschwängert.«
Ernesto spürte die Worte wie Schläge in seinem ganzen Körper. Chazza war das gewesen? Der Ewig Summende? War das überhaupt möglich? Chazza, der blind war? Und hilflos? Und sanft?
Ein Bild tauchte vor seinen Augen auf – Chazza im Krankenhaus, ein Gedanke, der ihm vage gekommen war, wie ähnlich er Liberty Bell in manchen Dingen war –, aber Unsinn, nein, nein, nein, doch nicht Chazza. Und dann seine Mutter, eine Mörderin?
Dr. Merrills Blick fixierte irgendeinen unsichtbaren Punkt an der gegenüberliegenden Wand. »Ich weiß, was du von mir denkst, Ernesto. Dass ich kaltherzig bin, dass ich deine Mutter nicht mehr liebe.« Er spreizte seine Finger. »Du tust mir unrecht. Hast es immer getan. Das, was die Sucht mit ihr angestellt hat – du hast ja keine Ahnung.« Er räusperte sich. »Jedenfalls kam sie nach Flavios Tod zu mir. Immer kam sie zu mir, wenn sie nicht weiterwusste.« Ein Hauch von leiser Genugtuung schwang für einen Moment in seiner Stimme mit. »Aber diesmal konnte ich es nicht unter den Teppich kehren. Es nicht wieder in Ordnung bringen.«
Ernesto versuchte, sich aus dem Dickicht dieser irren Gedanken in seinem schmerzenden Kopf zu befreien. Sein Gehirn fühlte sich wie blockiert an.
Seine Mutter hatte jahrelang davon gewusst, dass ihr bester Freund ein kleines, hilfloses Mädchen missbrauchte? Chazza? Der den Wald und die Natur und jedes Lebewesen liebte?
Mühsam öffnete er den Mund. »Was… was ist mit ihr los, Dad? Ich meine, jetzt, in diesem Moment?«
Einen Moment war es ganz still im Raum.
»Ich… ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht weiter – schützen kann. Daraufhin hat sie versucht, sich selbst zu töten.«
Die Worte verhallten, während Dr. Merrills Blick zwischen Ernesto und Liberty Bell hin und her wanderte.
Ernesto dachte an die vergangenen Jahre zurück. Seine Mutter, verschreckt, still, nie ganz und gar da, nur für die verdammten Katzen hatte sie sich aufgeopfert, hatte mit ihnen geschmust, ihnen Kosenamen gegeben und war in Tränen aufgelöst gewesen, wenn eine von ihnen starb. Und wenn Chazza gekommen war, meist unangemeldet, war sie jedes Mal wacher, einen Hauch optimistischer gewesen… Ja, Chazza… Immer wieder Chazza. Wie man es auch drehte und wendete.
Und dann die Sache mit Natasha. Hatte Natasha vielleicht Verdacht geschöpft? Das würde erklären, warum seine Mutter ihr so oft so viel Feindseligkeit entgegengebracht hatte. »Spiel dich hier nicht als Hausherrin auf, Nat!«, hatte sie mehr als einmal ärgerlich gesagt und war mit kalter Miene aus dem Zimmer gerauscht.
Aber was am Schlimmsten gewesen war in all den Jahren, war die Gefühllosigkeit zwischen seiner Mutter und ihm selbst. Das Rampenhaus war ein kaltes Haus gewesen, von jeher. Warum hatte seine Mutter nur so selten die Nähe zu ihm gesucht? Oft war es Ernesto so vorgekommen, als meide sie ihn bewusst. Immer war Natasha seine Ansprechpartnerin gewesen. Sie war nachts aufgestanden, wenn er krank war, sie hatte ihn getröstet, mit ihm gelacht, ihn umsorgt und gehätschelt…
»Er… lügt… – Ernesto.«
Alle zuckten zusammen. Ernesto hob den Kopf.
»Was hast du gesagt – Mom?«, wollte er mechanisch fragen, dabei hatte er sie durchaus verstanden, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, als sein Blick auf das halb abgewandte Gesicht seines Vaters fiel, der mit einem Mal unverwandt Liberty Bell anstarrte. Die Blässe seiner Haut hatte sich noch vertieft, sein eckiges Gesicht hatte etwas Totenkopfähnliches. Er atmete hörbar.
Sondras Stimme war so leise, dass
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