Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
beinahe liebevoll über das zerwühlte, strähnige Haar.
»Rühr sie nicht an!«, schrie Ernesto außer sich vor Wut und Angst.
Dr. Merrill ließ die Hand sinken und fing an zu lachen.
»Das ist lustig. Das ist sogar sehr lustig«, sagte er und wischte sich ein paar Lachtränen aus den Augen. »Pass auf, ich will dir erklären, warum: Genau dasselbe hat deine Mutter nämlich damals auch gesagt. Mit ihrem dicken, unansehnlichen Bauch stand sie vor mir wie eine Rachegöttin, oder besser: wie eine Furie. Und schrie genau dasselbe: ›Rühr sie nie mehr an…!‹«
Liberty Bell hatte angefangen zu zittern. Schweiß glänzte auf ihrem blassen Gesicht. Instinktiv griff Ernesto nach einem Stuhl und sie sank darauf nieder.
Die Augen.
Er hatte es gewusst.
Tief in sich drin hatte er es gewusst. Die ganze Zeit.
Es war dieses Flackern.
Dr. Merrills Augen flackerten wütend, hasserfüllt, herrisch.
In Liberty Bells Augen, die eine andere Form und eine andere Farbe hatten als die Augen seines Vaters, flackerte ein weiches Leuchten auf, wenn sie sich freute, wenn sie vergnügt war, zum Beispiel, wenn sie – Ernesto geküsst hatte. Aufgefallen war es ihm an diesem sonnigen Nachmittag am Cedar Creek, als sie… zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Hinterher hatten ihre Augen hell geglitzert – und es war dieses Flackern in ihnen gewesen, das ihn an etwas, an – jemanden erinnert hatte.
Dr. Merrill rollte auf Liberty Bell zu.
»Wage es ja nicht, sie anzurühren«, brüllte Ernesto noch einmal warnend. Sein Vater beachtete ihn nicht. Ernesto warf sich zwischen seinen Vater und Liberty Bell und schlug Dr. Merrill heftig ins Gesicht, schlug mit aller Kraft zu. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er – so etwas tat.
Das Gesicht seines Vaters flog zur Seite, aber er stöhnte nicht mal auf. Stattdessen drehte er ihm den Kopf wieder zu, als sei nichts geschehen. »Das war dumm von dir, mein Junge. Äußerst dumm«, sagte Dr. Merrill leise und bedeutsam. Aus seiner Nase lief Blut. Wieder flackerte sein Blick.
»Dumm von mir? Willst du uns auch noch töten, ja? Wie Flavio? Und Natasha? Wie – Mom? Und was ist mit Chazza? Wie hast du es gemacht? Und was ist mit JADEN? Verdammt, was ist mit ihm?«
Dr. Merrill wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Mein Junge. Sieh mich an. Und hör mir zu. Genau zu. Natasha Zlotsky habe ich nicht getötet. Das schwöre ich, so wahr ich hier vor dir – nun ja – sitze. Das, was da in ihrem Zimmer vorgefallen ist, hat sie ganz alleine vollbracht, die dumme, arme Person.«
Er hielt einen Moment inne.
»Das Leben ist wundervoll«, sagte er dann sinnend. »Es gibt Augenblicke, da möchte man sterben. Aber dann geschieht etwas Neues und man glaubt, man sei im Himmel.«
Er rollte einmal durch den Raum, verharrte einen ersten Moment vor seiner Frau, die mit glasigem Blick seinen Bewegungen folgte, und einen zweiten vor Liberty Bell, die immer noch reglos auf dem Stuhl verharrte, wie ein Tier, das in eine Schockstarre gefallen war.
»Das ist nicht von mir, sondern von einer Französin. Edith Piaf. Ein billiges, aufgedonnertes Weib, wenn ihr mich fragt. Aber ihre Lyrik: brillant.«
»Hör auf zu reden und zu reden …«, flüsterte Ernesto mühsam. Seine Zähne schlugen hörbar aufeinander. Seine Hand pulsierte schmerzhaft von dem Schlag. Wie lange waren sie schon in diesem Raum? Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Waren es erst ein paar Minuten? Oder war schon eine Stunde – wenn nicht gar Stunden vergangen? Warum hatte er bloß seine Armbanduhr nicht um?
»Es besteht absolut kein Grund zur Eile, Ern«, antwortete Dr. Merrill tadelnd. »Du hattest nach Jaden gefragt? Jaden Franklin? Nun ja…«
Er seufzte. »Eine traurige Sache, wirklich. Er kam zu mir. Er war hartnäckig, als ich versuchte, ihn abzuwimmeln. Erst vermutete ich, er wolle mich um einen kleinen, privaten Kredit bitten, um sein Image euch gegenüber etwas aufzupolieren. Aber nein, es kam schlimmer: Er wollte mich tatsächlich erpressen! Wollte hunderttausend Dollar von mir haben.«
Dr. Merrill schüttelte betrübt den Kopf. »Ich sagte natürlich Nein.« Wieder schwieg er einen Moment.
»Rubys Tagebuch«, fuhr er dann fort. »Es wimmelte nur so von Schreibfehlern. Sie hatte alles aufgeschrieben. Unser Geheimnis. Unser. Ganzes. Süßes. Geheimnis.«
Er fuhr sich über die Augen, ehe er seinen Blick wieder Ernesto zuwandte. »Jaden sagte, er habe das – lächerliche Heftchen rein zufällig bei einer dieser
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