Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Kirchenbasarverkäufe seiner Mutter entdeckt. Er gab sich sehr cool bei unserem Zusammentreffen. Aber ich sah, wie er innerlich bebte und zitterte. Kein Rückgrat. Der arme, dumme Junge. Er begriff gar nicht, wie ihm geschah, ich war um meinen Schreibtisch herumgerollt und hatte vermeintlich mein Scheckheft geholt. Dabei hatte ich ihn schon auf fünfzigtausend Dollar heruntergehandelt… Dann setzte ich rasch die Spritze. Sein freier Nacken erschien mir günstig…«
Dr. Merrill lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. »Den Rest kennst du. – Es war ein Unfall, Ern. Er verlor einfach die Kontrolle über seinen Körper und stürzte vor dieses fahrende Auto. Es tat mir wirklich sehr leid, das kannst du mir glauben. Vor allen Dingen für seine Eltern. Es ist mit Sicherheit – schlimm, ein Kind – zu verlieren…«
Er schaute vor sich hin, während Schweigen sich ausbreitete.
Mrs Merrills Augen waren zugefallen, sie atmete stoßweise.
»D… Dad – sie… stirbt …«, sagte Ernesto schließlich verzweifelt. Seine Stimme bebte, er konnte nicht mehr denken. Jaden, seine Mutter… War es das gleiche Gift, das sein Vater verwendet hatte? Und hatte sein Vater ihn angelogen mit dem Gegengift?
Eine Entscheidung, er musste eine Entscheidung treffen! Er wusste es und doch steckte er fest in diesem Gedankenschlamm, der es ihm unmöglich machte, sich zu bewegen, sich irgendwie zu rühren.
Liberty Bell schluchzte leise auf.
»Dein… Schluchzen gleicht ihrem Schluchzen«, bemerkte Dr. Merrill, drehte sich um und lächelte ihr freundlich zu, den Hass, der ihm entgegenschlug, nicht im Geringsten bemerkend.
»Wie… schön du bist«, fuhr er gleich darauf fort. Ungeniert betrachtete er sie. Liberty Bell saß wieder wie erstarrt, aber irgendwann schloss sie unter seinem Blick die Augen. »Eindeutig schöner als sie. Du hast sehr harmonische Gesichtszüge, mein Kind. Weißt du, mein Beruf bringt es mit sich, dass ich so etwas sehr genau einschätzen kann: der Abstand zwischen den Augen. Der Schwung der Brauen. Die Höhe der Nasenwurzel. Deine Maße sind beinahe vollkommen – Liberty Bell. Das gefällt mir. Das gefällt mir sehr…«
Wieder schaute er nachdenklich vor sich hin.
»Was… was soll das, D… – Stan? Hör auf, Mist zu reden, verdammt… Hilf meiner Mutter!«, stieß Ernesto angewidert hervor. Stan statt Dad. Nie wieder würde er seinen Vater mit diesem Attribut ansprechen. Wenn dieser Albtraum doch nur vorbei wäre. Wenn sie doch nur endlich aus diesem Haus herauskämen. Ernestos Augen flogen über die auch hier fest verschlossene Fensterfront.
Dr. Merrill wendete sich ihm zu.
»Ich sprach eben über – Genetik, Er – nes – to«, sagte er leise und betonte Ernestos Namen in einer eigenartigen Weise. »Du hättest zuhören sollen. Dann hättest du etwas lernen können: die Form des Schädels, die Linie der Wangenknochen, des Kinns… Alles entspringt im – Mutterleib, die Gene formen uns aus. Unerbittlich. – Und in diesem Mädchen erkenne ich…«
Er lächelte und warf Liberty Bell erneut einen Blick zu, in dem ganz eindeutig Wahn stand. »…wahrhaftig Spuren meiner selbst, meiner Mutter, sogar meiner Großmutter, die starb, als ich noch ein halbes Kind war… Wer hätte gedacht, dass mein kleiner – Rubin mir einmal so ein – fantastisches Geschenk machen würde?«
Er runzelte die Stirn. »Du, Ern, gleichst hingegen deiner Mutter. Lange, weibliche Wimpern, eine zu schmale Nase, ein unsteter Blick, ein schmaler Mund, helles, lockiges Haar, eine hohe Stirn. Vielleicht fragst du dich mal, warum ich mich nie in dir gesehen habe? Gar nicht sehen konnte?«
In diesem Moment huschte eine von Mrs Merrills Katzen zur Tür herein und maunzte leise. Vielleicht war sie verwirrt über die absolute Dunkelheit im ganzen Haus, normalerweise sprangen ja selbst mitten in der Nacht immer mal wieder die Bewegungsmelder an, die rund um die Villa installiert waren.
Jetzt durchquerte Dr. Merrill geräuschlos den Raum, beugte sich vor, packte die junge Katze mit festem Griff am Nacken, nahm sie hoch, setzte sie auf seine Knie und brach ihr in aller Seelenruhe das Genick. Es knackte vernehmlich, das grausame Geräusch hing in der Luft und schien nachzuklingen.
Liberty Bells Gesicht war wie eine Maske. Sie hatte die Augen wieder geöffnet. Regungslos betrachtete sie, was Dr. Merrill da tat.
»Ich habe von jeher eine Abneigung gegen Hauskatzen. Ein solch wunderbares Tier gehört in die freie Natur, es braucht hohe
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