Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
aus ihrer Kindheit zu erzählen, was immer etwas Besonderes war, denn Kindheitserinnerungen verschenkte sie nur sparsam, Puzzleteil für Puzzleteil.
Sie war ein armes Kind gewesen, die Mutter Putzfrau. Und der Vater? Abwesend, fortgegangen, nie zurückgekommen. Ein ziemlicher Murks also, und Sondra Merrill, geborene Baker, war froh, diesem Leben für immer entronnen zu sein.
Ernesto hielt für einen Moment an. Da war der enge Wegstrich mit der gekrümmt über den Waldboden laufenden Wurzel, über die Darayavahush gestolpert war. Ernesto atmete auf: bekanntes Terrain. Von hier war es nicht mehr weit. Er blieb einen Moment stehen und lauschte.
Schritte? Stimmen? Nein, nichts zu hören.
Zum ersten Mal kam Ernesto der Gedanke, dass er sich getäuscht haben könnte, dass Jaden und Cal vielleicht gar nicht hier waren, sondern etwas ganz anderes unternommen hatten. Vielleicht waren sie raus nach Wood Green, zum Freeclimbing, das machte Jaden manchmal. Okay, passte so gar nicht zu Cal, dem schwerfälligsten Amerikaner, den er kannte, aber – warum nicht?
Da, der kleine See, der im Grunde mehr ein Tümpel war, dazu der krumme Baum, die Bruchbude. Ernesto stand wieder genau dort, wo Ronan ihnen seine Entdeckung zum ersten Mal vorgeführt hatte.
Da war der kleine Hügel, den das Mädchen mit Blumen geschmückt hatte, und dort das angelegte Beet mit Blumen oder Kräutern, kniehohen Pflanzen jedenfalls. Die Tierställe in der kleinen Talsenke konnte man von hier aus nicht sehen.
Aber wo war sie?
Ernesto war beruhigt und beunruhigt zur gleichen Zeit. Beruhigt, weil von Jaden und Cal keine Spur zu entdecken war, beunruhigt, weil – nun, weil dieses mulmige Gefühl einfach nicht verschwinden wollte.
Und dann hörte er sie doch.
Stimmen. Geräusche. Gepolter.
Und Lachen…
All diese Geräusche drangen gedämpft aus dem Inneren der Hütte. Hatte die Tür das letzte Mal nicht offen gestanden? Ein Stück jedenfalls?
Eilig stolperte Ernesto los. Was sollte er tun? Einfach reingehen? Natürlich, einfach reingehen. Anklopfen? Blödsinn, darauf kam es jetzt nicht an, ganz sicher nicht.
»Nun hab dich doch nicht so, Kleine«, hörte Ernesto eine Stimme, die nicht Jadens war. Mit einem Ruck riss er die Tür auf. Zitterfingergen, nicht sehr männlich.
»Was… was ist hier los?«, rief er außer sich. Tatsächlich, Jaden, Cal, Dämmerlicht, ein umgefallener Schemel.
»He, wie kommst du denn hierher?«, stotterte Jaden überrumpelt und strich sich die Haare aus der Stirn.
Da war sie. Zum Glück nicht nackt diesmal. Seinetwegen? Ihretwegen? Um gewappnet zu sein, wenn wieder jemand kommen würde?
Sie kauerte auf der Erde, im hintersten Winkel der Hütte. Sie trug eine eigentümliche, geblümte Unterhose, die alt und ausgeleiert und ihr viel zu groß war. Dazu eine Art Bluse, fleckig und formlos, mit zwei ausgefransten Bändeln. Die Bluse war sorgfältig zugeknöpft, die Bändel zu einer großen, losen Schleife gebunden. Ernestos Blick hing einen Moment wie paralysiert an dieser irgendwie rührenden Schleife.
»Was will denn der hier?«, sagte Cal da unfreundlich. »Mann, verdufte! Siehst du nicht, dass du störst?«
»Was macht ihr mit ihr? Spinnt ihr? Lasst sie in Ruhe! Jaden, du Arschloch!«, schrie Ernesto, außer sich vor Wut.
»Hey, wir tun ihr nichts, du Selber-Arsch-du!«, bellte Cal Wyludda. Und obwohl er breit und schwerfällig war, rempelte er mit aller Wucht gegen Ernesto und brachte ihn zu Fall. Alleine schon, weil Ernesto damit nicht gerechnet hatte.
»Hau ab, bevor ich die Geduld verliere.« Cal stellte sich drohend über ihn. »Wir tun der Kleinen nichts. Wir wollen nur ein paar Aufnahmen machen. Mein Bruder arbeitet für Chanel 5-TV in Kentucky. Die Leute gehen ab für so ’ne Story…«
Ernesto stemmte sich auf die Beine. Was war mit dem Mädchen? Sie kauerte immer noch am Boden. Nur ihre Blicke flogen hin und her. Ansonsten rührte sie sich nicht.
Keine Mutter, fuhr es Ernesto durch den Kopf. Sie ist doch allein. Keine zweite Person weit und breit. Verdammt.
»Jaden, bitte! Verduftet«, sagte Ernesto so ruhig wie möglich. Das Mädchen hatte die Hände auf die Ohren gepresst, ihr Gesicht war weiß und voller Tränen. Schleim lief ihr aus der Nase. Sie zog ihn nicht hoch und wischte ihn auch nicht weg. Stattdessen summte sie einen eigenartig hohen, endlosen Ton, wie um sich selbst zu beruhigen.
»Sie hat Angst, ihr Arschlöcher. Seht ihr das nicht?«, fügte Ernesto leise hinzu. »Tut mir den Gefallen
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