Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
und haut ab, okay?«
»Und vor dir nicht, oder was?«, schnauzte Cal, während Jaden schwieg. »Wer, glaubst du, dass du bist? Ihr Beschützer? Ihr Retter? Oder willst du sie nur in Ruhe vögeln? Stehst du auf schmuddelige Irre, oder was? Soll es ja alles geben. Manche stehen auf krankhaft Fette. Und du eben auf Geisteskranke…«
»He, Cal …«, sagte Jaden nun doch.
»Er soll abschwirren, Jaden«, war Cals knappe Antwort. »Er stört. Wir wollen die Kleine nicht ficken oder so. Hand drauf! Aber mehr Entgegenkommen ist nicht. Also, zieh Leine, Nervensäge.«
Er trat einen Schritt auf das Mädchen am Boden zu. »Los, steh mal auf, Verrückte«, sagte er dazu. »Damit ich dich in deiner ganzen Pracht vor die Linse kriege…«
Was dann passierte, geschah wahnsinnig schnell. Sie brauchte ihn nicht, ihn und seinen Schutz. Deutlicher hätte sie es nicht unter Beweis stellen können, denn plötzlich hatte sie ein großes Messer in der Hand, wo immer sie es auf einmal herhatte. Es war ein ähnliches Messer wie das, mit dem sie beim letzten Mal die tote Biberratte gehäutet hatte. Jedenfalls stieß sie es, als Cal sie am Arm packen wollte, tief in seine Schulter.
»Scheiße!«, brüllte Cal und taumelte zurück. Sein Gesicht war mit einem Schlag blass geworden, das Messer steckte noch in seinem Arm. Seine Lippen wurden ebenfalls weiß.
»Verdammt«, stammelte Jaden entsetzt und suchte Ernestos Blick. »Verdammt, verdammt, verdammt.«
In Ernestos Kopf wirbelte alles durcheinander. Jetzt nur nicht durchdrehen, beschwor er sich innerlich. Alles der Reihe nach: das Mädchen, zuerst das Mädchen! Er musste ihr helfen, sie beruhigen, ihr deutlich machen, dass er nicht war wie Cal Wyludda, dass er ihr nichts tun würde.
»Ernesto, was…?«, sagte Jaden, aber Ernesto stieß ihn zur Seite. »Das verzeihe ich dir nie, du Idiot«, sagte er außer sich vor Wut und eilte dem Mädchen hinterher, das den Augenblick genutzt hatte und aus der Hütte gestürzt war. Barfuß, Gesicht, Arme und Beine schmutzig und mit Blut beschmiert. Und das Gesicht voller Angst. Und immer noch den wahnsinnig hohen Ton summend.
5
T ränen: ein Gemisch aus Wasser, Kalium, Proteinen, Mangan, verschiedenen Enzymen, Fetten, Ölen, Wachs und einer Portion Natriumchlorid. Das alles wusste er, weil er im vergangenen Schuljahr in Biologie ein Referat zu diesem Thema gehalten hatte.
»Ach Scheiße«, murmelte Ernesto. Wenigstens hatte er sie gefunden. Nicht, dass das viel genützt hätte, aber immerhin. Sie war wahnsinnig schnell, denn als Ernesto aus der Hütte gestürzt kam, war sie bereits verschwunden gewesen. Voller Panik hatte er sich umgesehen.
»Ern?« Jaden kam mit Cal am Arm aus der Hütte. »Ern – kannst du mir helfen? Bitte.«
Jadens Stimme klang belegt und panisch. Cal stöhnte, gab aber sonst keinen Ton von sich.
»Ern, ich weiß nicht, ob er es bis zum Auto schafft…«
Mehr bekam Ernesto nicht mit, er stellte seine Ohren auf Durchzug und stapfte wütend davon. In seinem Kopf war ein schwindelig machendes Gedankenkarussell. Das Mädchen, wie sollte er sie finden? Er kannte nicht mal ihren Namen, konnte sie nicht rufen. Die Wunde in Cals Schulter, sein blutdurchtränktes Shirt, das Messer darin. Beim Gedanken daran, lief ihm, trotz allem, ein Schauder über den Rücken. Jaden, der diesen ganzen Mist ausgelöst hatte. Was sollte jetzt werden? Würde Cal es bis zu Mr Franklins Dreckskarre schaffen? Was, wenn nicht? Hätte er vielleicht doch helfen sollen?
Er stöhnte laut auf. Warum hatte er nur darauf bestanden, alleine hierherzufahren? War es, wie Cal behauptet hatte: Wollte er sich als Retter aufspielen? Er dachte an das bleiche Gesicht des Mädchens, an die Panik in ihren Augen, an ihre eigentümliche Bekleidung. Was war mit ihr? Wo war diese Eve? Warum hauste das Mädchen hier draußen? Und vor allen Dingen: Wo war sie jetzt?
»Hallo?«, rief er, weil er sich keinen anderen Rat mehr wusste. »Hallo?« Er konnte schließlich nicht endlos in diese Einöde hineinlaufen. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und warf einen prüfenden Blick darauf. Kein Netz, natürlich.
Vor ihm lag ein Zickzacktrampelpfad, drum herum nichts als dichtes Unterholz, dazwischen einige dünne, kerzengerade Bäume, die ganz anders aussahen als die Baumriesen, die sie von allen Seiten umgaben. Ernesto bog in den Weg ein. Der Pfad wurde allmählich steiler und führte in einer eigenartigen Schlangenlinie einen Hügel hinauf bis zu einer Art Felsnase, die ein
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