Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Plan sähe ja anders aus. – Willst du wissen, wie?«
Natürlich nicht. Das Schweigen war wie eine Mauer. Unsinn, es war eine Mauer.
»Okay, ich habe es noch keinem gesagt. Nicht mal Salvador oder Ronan oder den anderen. Weil, irgendwie ist es peinlich. Nicht sehr – männlich, wenn du verstehst, was ich meine.«
Schweigen.
»Okay. Also. Ein buntes Hausboot auf dem Hudson River.« Schweigen. Schweigen. Schweigen. Schweigen. Schweigen. Schweigen.
»Klingt idiotisch, was? Ist mir aber egal. Ich sehe es genau vor mir. Ich will es selbst anmalen, richtig wahnsinnig bunt. Und ich werde Sonnenblumen in Kübeln pflanzen. Und andere Pflanzen. Du kennst dich bestimmt gut aus mit Pflanzen, oder?«
Für einen Moment flatterte ihr Blick, aber mehr geschah nicht.
Und jetzt?
Ernesto warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr und war für einen Augenblick fast überrascht, dass sie noch funktionierte. Fast hatte er erwartet, dass sie genauso tot sein würde wie sein Mobiltelefon. Kein Netz, kein Anschluss mehr an die Wirklichkeit. Aber zum Glück beherbergte seine Armbanduhr in ihrem Inneren eine stinknormale Alltagsbatterie, die auch in der Einöde ihren Dienst tat.
Es war schon ziemlich spät. Jaden und Cal mussten, immer vorausgesetzt, dass Cal durchgehalten hatte, allmählich zurück in Old Town sein. Ernesto biss sich auf die Lippen und sah es vor sich: Arzt, Einweisung ins örtliche Krankenhaus, die Blicke des diensthabenden Arztes oder der diensthabenden Schwester auf das Messer, die Fragen, der Griff zum Telefon, um die Behörden einzuschalten, und immer wieder: die verflixte Kamera in Cals Tasche.
Es war ein verdammter Mist. Er konnte das Mädchen nicht einfach so zurücklassen. Nicht nach dem, was heute passiert war. Was wäre gewesen, wenn sie Cal statt in der Schulter in den Brustkorb getroffen hätte? Hätte das passieren können? Ernesto versuchte, seinen Blickwinkel zu verändern. Nicht den äußeren, sondern eher den inneren.
Nein, Blödsinn, sie konnte mit Messern umgehen. Er und seine Freunde hatten es schließlich gesehen, als sie die dicke Ratte auf ihren Knien – nun gut, abgestochen und gehäutet hatte… Wenn sie Cal ernstlich hätte verletzen wollen, hätte sie es getan.
Aber dennoch, was spielte das jetzt für eine Rolle? Sie würden kommen, so viel war mal klar. Es ließ sich gar nicht mehr verhindern. Man würde bestimmt nicht akzeptieren, dass ein Mädchen alleine hier draußen lebte und von Rattenfleisch und weiß der Himmel was noch lebte.
»Oh Mann«, murmelte Ernesto, als er sich vorstellte, wie Jaden sie hierherführte. Und noch schlimmer. Nicht nur Kentucky hatte massenweise publicitywütige Fernsehsender. Oregon war auch nicht hinterm Mond. Wann würden die ersten Hubschrauber über diesem Waldstück kreisen auf der Suche nach einem nackten Waldmädchen?
»Die beiden Typen vorhin – haben sie dir wehgetan?«
Ernesto erwartete schon gar nichts anderes mehr als mauerartiges Schweigen, aber es frustrierte ihn dennoch.
»Weißt du, der Dünne, Blonde heißt Jaden. Er – er ist eigentlich so was wie ein Freund von mir, beziehungsweise war es bis heute. Der andere ist eindeutig ein Mistkerl, sein Name ist Cal. Und ich möchte nur wissen, ob er… ob er dir wehgetan hat, richtig wehgetan, verstehst du? Klar, er hat dich erschreckt mit seiner Scheißart, aber… aber hat er dich irgendwie… ich meine…?«
Cal hatte steif und fest behauptet, dass sie sie nicht angerührt hatten, aber wer wusste schon, was passiert war, ehe er in die Hütte gekommen war?
»Lib – Liberty… Bell.«
Ernesto starrte sie fassungslos an. Träumte er? Oder hatte sie tatsächlich mit ihm gesprochen? Sie hatte doch etwas gesagt oder hatte er jetzt schon Wahnvorstellungen?
Freiheitsglocke? Hatte er das richtig verstanden? Hatte sie Freiheitsglocke gesagt?
»Liberty… Bell.«
Ernesto atmete ganz flach, um nur ja nichts falsch zu machen jetzt.
»Du… du meinst, dein Name ist Liberty Bell?«
Sie nickte, ganz leicht nur, aber sie nickte.
Wieder spürte Ernesto seinen Herzschlag im ganzen Körper, aber diesmal war es ein gutes, hoffnungsvolles, fast triumphierendes Gefühl. Wahnsinn, sie sprach! Sie hatte ihn verstanden, sie war nicht verrückt oder zurückgeblieben. Und: Sie hatte einen Namen – wenn auch einen eigenartigen, aber darauf kam es jetzt nicht an. Eine Menge Menschen gaben ihren Kindern eigenartige Namen. Tiger, Apple, Heaven, Brooklyn und lauter solcher Quatsch.
»Ein schöner Name,
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