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Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Rosen
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gestorben, ehe Ernesto noch mehr über Stanley Jonathan Merrill, den Eiligen, der ihn vor mehr als achtzehn Jahren gezeugt hatte, in Erfahrung bringen konnte.
    Sein Vater hatte gemalt? Auf irgendeine entrückte Weise war das schon vorstellbar: Früher waren es vielleicht zarte, akribische Zeichnungen gewesen, heute machte er das Ganze eben mit dem Skalpell, so oder so, perfekt. Nasen in Form bringen, Augenfalten liften, Tränensäcke verschwinden lassen. Das ganze Prozedere.
    Verdammt, warum war Jaden bloß mit seinem Cousin dorthin gefahren? Was wollte er dort? Das Waldmädchen wieder aus der Ferne beobachten? Hatte er mit seiner Entdeckung angeben wollen? Oder wollte er sie noch einmal filmen?
    Im Geist sah Ernesto, wie Jaden einen Film, in dem das Mädchen nackt zu sehen war, bei YouTube hochlud und online stellte. Klicks sammelte. Werbung dazwischenlud. Geld machte.
    Ihm wurde fast schlecht dabei.
    Und er konnte sich, tief in sich drin, auch noch Schlimmeres ausmalen.
    Klar, der Beetle war nicht der Chevy von Ronans Vater und auch kein Jeep wie die Karre von Mr Franklin, aber trotzdem schaffte es Ernesto ein ganzes Stück weiter ins Innere des Waldes, ehe er den Wagen abstellen musste. Mit einigem Rechtsdrall ließ Ernesto ihn am Rand einer buckeligen, winzigen Lichtung stehen. Sei’s drum, er würde schon nicht umkippen, aber wenigstens war an dieser Stelle einigermaßen Platz, die Bäume standen wahnsinnig dicht in diesem Waldnirwana.
    Eilig machte er sich auf den Weg und konzentrierte sich auf die Richtung, die er einschlagen musste. Bäume, Äste, über der Erde wachsendes Wurzelgeflecht, Dornen, Brennnesseln, Winden, die einen zum Wahnsinn treiben konnten, wenn man sich in ihnen verhedderte.
    Letztes Jahr war Ernesto mit seinem Vater in Chicago gewesen, hatte ihn auf einen Kongress begleitet und sie hatten gemeinsam festgestellt, dass man in Chicago tagelang laufen konnte, ohne auf das kleinste Fleckchen Erde zu treten. Ihn hatte das frustriert, während sein Vater es mochte. Ernestos Vater war kein Naturfreak, das war eher die Welt von Sondra Merrill, seiner Mutter, und damit auch Ernestos. Das Naturgen war ihm jedenfalls deutlich lieber als das Fingerzittergen.
    Klar, man musste berücksichtigen, dass sein Vater einen Rollstuhl brauchte, um sich fortzubewegen.
    Als Kleinkind hatte sein Dad ihn manchmal für Augenblicke auf seine Knie gesetzt und er durfte fühlen, wie es war, mit einem Rollstuhl durchs Leben zu fahren.
    »Sind deine Beine wirklich taub?«, hatte er seinen Vater ehrfürchtig gefragt.
    »Ja«, sagte sein Vater zerstreut. Seine Beine waren ihm irgendwie nicht so wichtig. Wichtig waren seine Hände, seine Arbeitsgeräte. Sie waren sein Leben. Er war einer der besten plastischen Chirurgen der USA. Ab und zu gönnte Ernesto sich den Luxus, darauf wenigstens etwas stolz zu sein.
    Am leichtesten gelang ihm das, wenn Dr. Merrill von seinem hohen Ross herabstieg und etwas Gutes tat, wie den siamesischen Zwillingen aus Xi’an zu helfen, von denen ein postoperatives Foto im Wohnzimmer der Familie Merrill hing. Hübsche, schüchtern lächelnde Mädchen. Ernesto mochte das Bild.
    Der Himmel war von einem beinahe überklaren Blau. Wenigstens waren es die winzigen Fetzen, die zwischen den Blättern hindurchsahen. Die Sonne, die durch das dichte Blätterdach über Ernestos Kopf schien, sprenkelte den Boden, über den er dahineilte und nach Jaden, Cal und der alten Hütte Ausschau hielt. Er wurde das ungute Gefühl nicht los, das ihn in dem Moment überkommen hatte, als Flavio ihnen erzählt hatte, dass Jaden unterwegs nach Irgendwo war.
    Verdammt, warum hatte Jaden diesen Alleingang unternommen? Und dann auch noch zusammen mit diesem Computer-Nerd Cal Wyludda?
    Die Luft roch wahnsinnig intensiv nach Wald und Unberührtheit. Vögel zwitscherten, es war ein ohrenbetäubender Lärm.
    Einmal, vor vielen Jahren, hatte Ernesto mit seiner Mutter und Natasha ein Picknick im Wald gemacht. Es war ein paar Tage nach seinem zehnten Geburtstag gewesen und dieses Picknick war sein Geburtstagsgeschenk. Es war in dem Jahr sein größter Wunsch gewesen: picknicken im Wald mit seinen Eltern, tomsawyermäßig. Gut, statt seines Vaters war Natasha mitgekommen, aber das war in Ordnung, Ernesto mochte sie. Natasha hatte auch einen Sohn, aber er lebte nicht bei ihr, sondern in ihrer alten Heimat Polen, bei Verwandten, warum, wusste er nicht genau.
    Sie aßen feierlich Tandoori-Hähnchen und seine Mutter ließ sich dazu herab,

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