Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
paar Meter in die Höhe ragte. Und dahinter, Ernesto atmete auf und verfluchte gleichzeitig seinen schlechten Orientierungssinn, lag die kleine Talsenke mit den schief zusammengezimmerten Tierkäfigen. Von hier aus konnte man, wenn man sich Mühe gab, ein Stück Dach der alten Hütte sehen. Ernesto hielt für einen Moment Ausschau nach Jaden und Cal, aber die beiden waren nicht mehr auszumachen.
Ernesto überquerte die kleine Lichtung. Aus den Augenwinkeln erkannte er, dass sich am lehmigen Ufer des seichten Tümpels ein paar ähnliche Tiere tummelten wie die in den Käfigen. Nutriaratten. Von hier aus sahen sie mehr denn je wie zu groß geratene Meerschweinchen aus. Einzig der dicke, lange und haarlose Schwanz verriet, dass es sich um Ratten handelte. Als sie ihn entdeckten, verschwanden sie alle blitzschnell im trüben Wasser.
Ernesto hastete weiter, obwohl er fast schon sicher war, das Mädchen verloren zu haben. Er spürte, wie ihn der Mut verließ. Cal würde einen Arzt brauchen, wenn sie es nach Old Town zurückschafften. Oder Jaden würde ihn gleich ins Krankenhaus bringen. Und dann? Was würden sie dort erzählen?
Er dachte an die Filmaufnahmen, die der Dreckskerl Cal gemacht hatte, und spürte seinen Herzschlag im ganzen Körper.
Da, der Trampelpfad. Ernesto folgte ihm wie in Trance, weil er sich an dem Gedanken festhielt, dass jeder erkennbare Trampelpfad ein schwacher Hinweis darauf war, dass hier jemand mehr als einmal gelaufen war. Und wenn es so war, könnte es auch ein Weg des Mädchens sein.
Plötzlich blieb Ernesto stehen. Schließlich war er fern jeder Zivilisation – und doch: Hier öffnete sich eine weitere Lichtung, hineingesetzt mitten in den dichten Wald – wie entstanden eigentlich Lichtungen? Sie war kreisrund, voller Blumen, Feld- und Wiesenblumen zumeist, aber er entdeckte auch wilde Rosen und eine majestätische, helle Weide mit langen, weichen Ästen, die vom Wind, der hier wehte, bewegt wurden. Aber das war noch nicht alles. In der Mitte, um einen schweren, großen Stein, der bestimmt schon jahrhundertelang an dieser Stelle lag, waren unendlich viele, kleinere Steine aufgeschichtet. Sie bildeten Muster und Mosaike und Spiralwege.
Und dort – war das Mädchen. Ernesto atmete auf. Waren die Steingebilde ihr Werk? Es musste im Grunde so sein, wer sollte sie sonst zusammengetragen haben? Wie lange es wohl gedauert hatte, diese Bilder zu legen? Ernesto bekam unweigerlich eine Gänsehaut, während er versuchte, sich das vorzustellen. Das Mädchen kauerte im Gras und hatte ihre dünnen, sonnengebräunten Arme um die Beine geschlungen. Sie schluchzte leise und ihr Kopf flog förmlich nach oben, als Ernesto sicht- und hörbar wurde.
»Bitte, hab keine Angst«, sagte Ernesto und musste für einen Moment an seinen Traum denken. Den Traum, in dem er dem Mädchen die hellen, verfilzten Haare aus der Stirn gestrichen hatte.
»Wir… wir haben uns doch schon mal gesehen. Erinnerst du dich?«, fuhr er behutsam fort.
Es war wie in einem Déjà-vu. Das Mädchen konnte wieder nicht zurückweichen, diesmal hatte sie anstelle eines knorrigen Baumstammes den mächtigen Fels im Rücken.
»Ich tue dir nichts. Wirklich nicht.«
Ernesto ließ sich ebenfalls ins Gras sinken, lauschte dem Schluchzen eine halbe Ewigkeit lang und versuchte, seine Gedanken zu sortieren.
Tränen: ein Gemisch aus Wasser, Kalium, Proteinen, Mangan, verschiedenen Enzymen. Profaner Mist, dieses Biologieunterrichtswissen. Tränen waren vor allen Dingen Traurigkeit, Trostlosigkeit, Mutlosigkeit, Einsamkeit.
»Ich… ich würde dir gerne helfen.«
Jeder seiner Sätze war eine ausgeworfene Angel, aber da war kein Fisch, den man locken konnte. Hier war nur ein wahnsinnig ängstliches, mit Cals abscheulichem Blut besudeltes Mädchen.
Konnte es stimmen, was Darayavahush gesagt hatte? War sie vielleicht wirklich – behindert? Geistig zurückgeblieben? So wie der Mann im schicken Anzug, der Johnny Depp ähnelte, Lieder sang und betete, und von dem der Sender BBC behauptete, er sei ein Autist? BBC erzählte ja normalerweise nicht unbedingt Mist.
»Kannst du mir sagen, wie du heißt?«
Schweigen.
»Ich bin Ernesto, das hab ich dir ja schon erzählt. Meine Freunde nennen mich manchmal Ern, aber Ernesto ist mir lieber.«
Schweigen.
»Ich gehe noch zur Schule. Danach soll ich Medizin studieren. Am besten in Princeton oder so. Das ist wenigstens der Plan meines Vaters. – Bist du je in eine Schule gegangen?«
Schweigen.
»Mein
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