Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Her machte Jaden sich wütend aus dem Staub. Auch Mrs Franklin und Mrs Sengers brachen auf.
»Wie lange willst du eigentlich noch sauer auf ihn sein, Ern?«, erkundigte sich Darayavahush.
»Ihr habt nicht gesehen, wie er und Cal in Liberty Bells Hütte drauf waren. Wie Cal an ihr rumgezerrt hat, wie Jaden tatenlos danebenstand, welche Panik sie hatte… Und dann hat Cal zu allem Überfluss auch noch den ganzen Scheiß ausgelöst, in dem sie jetzt steckt!«
»Hey, ist ja gut«, sagte Mose beschwichtigend.
»Gar nichts ist gut, versteht ihr das nicht?« Ernesto stand ruckartig auf, sein Stuhl fiel polternd zu Boden. »Redet ihr ruhig weiter über Ferien in den Rocky Mountains und weiß der Teufel, wo noch! Aber verschont mich bitte mit dem Scheiß, okay?«
Die Freunde sahen ihn an.
»Mensch, Ernesto«, sagte Salvador.
»Ja, genau. – Was war denn nun mit – der Kleinen?« Darayavahush aß die Pfefferminzblätter, die in seinem Tee schwammen.
Ernesto spürte, wie er gerne eingelenkt hätte, irgendwie, aber schaffte es nicht. »Sorry, ich glaube, ich brauche – frische Luft, oder so«, sagte er mit heiserer Stimme und machte sich, wie Jaden zuvor, aus dem Staub.
»Morgen wird der alte Flavio beerdigt«, rief ihm Ronan noch hinterher. »Die Bullen haben – seine… Leiche freigegeben oder wie das heißt. – Kommst du? Um zehn auf dem alten Friedhof von Wood Green. Wir gehen alle.«
»Und – Ernesto – hast du es schon mitbekommen? Der Ewig Summende ist wieder in der Stadt. Gerade eingetroffen. Vielleicht freut’s dich ja…«
Der letzte Satz kam von Salvador und Ernesto stellte fest, dass seine Freunde zwar seine Freunde waren, aber dass Salvador noch eine andere Art Freund war.
Er überquerte mit schnellen, gereizten Schritten die Georgia Avenue und durchlief den kleinen, etwas schäbigen Woodrow Wilson Park. Dahinter lagen ein paar Sportplätze und Mrs Franklins und jetzt auch Mrs Sengers Reich, die alte Grundschule. Ernesto lief über den Kinderzeitschulhof, über kleine Straßen dahinter und über eine Wiese. Dann stapfte er querfeldein durch einen kleinen Wald, der nicht im Entferntesten an Liberty Bells Wald erinnerte. Er erreichte den Cedar Creek, ein Stück unterhalb der alten Brücke von Old Town. Dort setzte er sich auf einen Stein, kickte seine Sneakers von den Füßen, ließ seine Füße gleichgültig in den dunklen Schlamm des Bachbettes gleiten – gut gegen die Julihitze – und warf Kieselsteine ins Wasser.
Nachdenken, er musste nachdenken, einen freien Kopf bekommen. Sonnenlicht fiel durch Laub und Kiefernnadeln und sprenkelte den Boden um ihn herum mit hellen Tupfen.
»Hey«, hatte er zu Liberty Bell gesagt. Und »hey, du…«, aber sie hatte nicht mal die Augen geöffnet. Er hatte ihre halb geöffneten Hände betrachtet, ihre zuckenden Fingerspitzen, die Silhouette ihres dünnen Körpers unter der weißen Krankenhausdecke.
»Kannst du… kannst du mich hören?«, fragte er und wünschte Dr. Bolino, die ihm zulächelte, und Dr. Oakville, der ihn mit Argusaugen beobachtete, weit weg.
Er hockte sich auf die Stuhlkante eines Besucherstuhls, der hier herumstand und noch nie gebraucht worden war, wie es schien. Wie es wohl war, ganz alleine in der Welt zu stehen?
»Weißt du noch, wer ich bin? – Ernesto. Ich habe dich in deiner Hütte besucht. Ich habe dir von meiner Familie erzählt. Von meinem Vater, der Leute operiert. Weißt du noch, die beiden kleinen Mädchen mit den aneinandergewachsenen Gesichtern, die er getrennt hat? Und dann habe ich dir auch von meinen Freunden erzählt, von Salvador, Mose, Ronan und den anderen…«
Liberty Bell rührte sich nicht. Es war, als würde er mit sich selbst sprechen. Oder mit der dünnen, desinfektionsmittelgeschwängerten Luft in diesem Raum, die alleine einen wahnsinnig machen konnte. Und – halt – über seine Freunde zu reden, führte unweigerlich auch zu Jaden! Und damit zu Cal Wyludda und diesem schrecklichen Moment, als sie ihre Hütte gestürmt hatten.
Nein, er musste ein anderes Gesprächsthema finden.
»Ich habe dir doch von meinem Traum berichtet«, flüsterte Ernesto und bemühte sich, die beiden Ärzte nicht mithören zu lassen. »Meinem Hausboottraum. Weißt du noch? Das bunte Hausboot auf dem Hudson River? Daraus wird wohl nichts – wenigstens in der nächsten Zeit. Gestern ist der Brief gekommen. Ich habe einen Studienplatz auf dem Montgomery College in Village, das ist gar nicht so weit von hier. Eigentlich hätte mich
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