Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ohne ein weiteres Wort an ihn zu verlieren. Der Rollstuhl, in dem er saß, kam ebenso wie seine teure Musikanlage aus der Schweiz. Das Ding fuhr absolut geräuschlos und war ein Hightechgerät der Extraklasse. Das erwähnte Dr. Merrill gern und oft.
»Früher, als seine Beine noch okay waren, ist er Jaguar gefahren, jetzt fährt er eben den Jaguar unter den Rollstühlen«, hatte Ernesto Salvador vor einer Weile mal achselzuckend anvertraut.
»Nat, nun sag schon«, wiederholte Ernesto, doch die Haushälterin wusste den Titel des Songs nicht. Ernesto ging mit ihr ins Nebenzimmer und überflog die Liste der auf der CD-Hülle aufgeführten Songs, während sich Natasha wieder an ihre Arbeit machte.
Volltreffer, da war er, Ernesto sah es auf den ersten Blick: »Tie a yellow ribbon round the ole oak tree« aus dem Jahr 1972.
Aber Ernesto war sich ganz sicher, es war dieser Song, den Liberty Bell gesungen hatte in dieser wahnsinnig dunklen Nacht in ihrer Hütte, als ihr Scheitel für eine Weile sein Bein berührte, ehe sie sich im Schlaf wegdrehte.
Dasselbe Mädchen, das jetzt wie eine Tote auf der neurologischen Station des General Hospital lag und das durch eine Hölle aus EEG-Untersuchungen, MRTs, CTs und anderen Computeranalysetests ging.
Sie hatten ihr auf einen Schlag alles genommen, was sie gehabt hatte, und jetzt war sie ihnen entglitten. Verstand das denn keiner?
Ernesto stürmte aus dem Raum und nahm drei Rampen, bis er sein eigenes Zimmer erreichte. Mit bebenden Fingern schaltete er sein Laptop ein und suchte den kompletten Song.
Da war er. Ernesto griff nach seiner Gitarre, sie war ein Geschenk von Chazza Blume zu seinem vierzehnten Geburtstag gewesen. Damals hatte Ernesto eine ziemlich miese Zeit gehabt und sich von der ganzen Welt unverstanden gefühlt. Wenn er ehrlich war, fühlte er sich auch heute noch oft so, aber er hielt es in der Zwischenzeit besser aus, irgendwie. Sein Vater hatte es nicht gerne, wenn Ernesto auf der Gitarre herumklimperte, wie er es nannte, aber er war ja ohnehin kaum da.
Chazza hatte Ernesto nach und nach alle Akkorde beigebracht, allerdings war es bestimmt schon über ein Jahr her, seit Ernesto das Instrument zum letzten Mal in der Hand gehabt hatte. Aber was sagte Chazza nicht immer? Mit dem Gitarrespielen sei es wie mit dem Schwimmen. Man verlernte es nicht wieder.
»Nein, das ist leider unmöglich«, sagte eine unbekannte Krankenschwester, ganz wie er es erwartet hatte. Diesmal war er direkt auf die neurologische Station gegangen, aber kurz vor Liberty Bells Zimmer hatte ihn die diensthabende Schwester abgefangen. Immerhin trug sie ein Namensschildchen, das ihre Identität preisgab. Marylin Long.
»Bitte, Marylin, ich war schon einmal bei ihr«, sagte Ernesto seufzend und hatte das Gefühl, sich in einer Endlosschleife aus Bullshit zu befinden. »Dr. Bolino hat letzte Woche selbst gesagt, es würde – Liberty Bell mit Sicherheit guttun, wenn ich eine Weile bei ihr wäre.«
Es fiel Ernesto schwer, in diesem kalten Flur Liberty Bells Namen auszusprechen, aber es hatte keinen Sinn mehr, ihn weiter zurückzuhalten. Er hatte ihn einmal preisgegeben und konnte diesen Moment nicht rückgängig machen.
»Das ist sehr nett gemeint, junger Mann«, sagte Marylin Long und brachte sogar ein verständnisvolles Lächeln zustande, »aber Dr. Oakville ist der Meinung, dass Libby noch ein bisschen Zeit braucht, ehe sie Besuch bekommen soll.«
Libby? War das zu fassen? Und was sollte diese idiotische Besuchssperre? Warum schirmten sie das Mädchen so hermetisch ab?
»Bitte«, wiederholte er. »Ich – ich möchte etwas versuchen. Ich… ich will ihr etwas vorsingen. Das klingt vielleicht blöd, aber ich glaube, es könnte – helfen…«
Ernesto deutete auf seine Gitarre. »Ich bin einer aus der Gruppe, die Liberty Bell im Wald entdeckt hat. Und ich bin derjenige, der ein paar Stunden mit ihr zusammen war, ehe sie – hierherkam. Ich habe mit ihr gesprochen, wir haben uns unterhalten, Marylin!«
Es grenzte an ein Wunder.
Sie holte weder Dr. Walther noch Dr. Bolino oder den widerlichen Dr. Oakville. Stattdessen nickte sie plötzlich leicht, sah sich vorsichtig im Gang um und öffnete die Tür zu Liberty Bells Zimmer.
»Aber nur ganz kurz, okay? Und stell keinen Blödsinn an, verstanden?«, flüsterte sie mahnend.
Ernesto lächelte ihr zu. »Ja, klar. – Danke…«
Die Schwester wollte schon weitereilen, als ihr noch etwas einfiel. »Hör mal«, sagte sie leise. »Der Raum ist
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