Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
dass sie sprach.
Mehr nicht.
»Sie… sind doch bestimmt schon dort draußen gewesen«, sagte er und warf Dr. Bolino einen fragenden Blick zu.
Das Gebiet um Liberty Bells Hütte herum war seit dem Tag, als man sie von dort weggeholt hatte, offizielle Sperrzone. Ronan war mit Ozzy Osbourne hinausgefahren und hatte die Polizeiabsperrungen mit eigenen Augen gesehen.
Dr. Bolino nickte. »Ein ganzes Team ist in diesem Waldstück hinter Wood Green beschäftigt…«
Ernesto dachte an das Steingrab von… Annie Lyford und ein Prickeln durchlief seinen Körper. Hatten sie es schon entdeckt?
»Und?«, fragte er.
»Ja, also …«, begann Dr. Bolino, die es wohl in Ordnung fand, ihn wie einen Gleichberechtigten zu behandeln. Ganz im Gegenteil zu Dr. Oakville.
»Nun, nun, alles zu seiner Zeit!«, sagte er nämlich mit aufgesetzter Heiterkeit und erhob sich und diese Bewegung hatte etwas Abschließendes an sich, das spürte sowohl Ernesto als auch Dr. Bolino.
»Kann ich dann jetzt zu ihr?«, fragte Ernesto und stand ebenfalls auf. Sie bildeten ein Dreieck, Dr. Bolinos Schreibtisch war die Grenze des Möglichen zwischen ihnen.
»Nein, das geht natürlich keinesfalls«, sagte Dr. Oakville, Mister Unnahbar.
»Vielleicht wäre es in dem Fall keine so schlechte Idee«, widersprach Dr. Bolino.
»Und was sollte das für einen Sinn haben, Bethany?«
Dr. Oakvilles verkniffene Miene sah aus wie das vergilbte Bild eines frustrierten, vom Leben enttäuschten Menschen.
»Wir könnten die Reaktion des Mädchens testen…« Plötzlich fiel Dr. Bolino etwas ein. Ihr Blick flog hoffnungsvoll zu Ernesto zurück. »Ihren Namen…«, sagte sie hastig. »Hat sie dir – wenn sie tatsächlich mit dir gesprochen hat – vielleicht ihren Namen genannt? Oder, anders formuliert: Weißt du, ob sie einen Namen hat?«
Ernesto spürte sein Herz im Inneren seines Brustkorbes gegen seine Rippen schlagen. Okay, hier war sie – seine Chance. Diesmal würde er nicht so blöd sein.
Ganz langsam nickte er.
»Gott sei Dank«, seufzte Dr. Bolino erleichtert. Sie trat um den Tisch herum und berührte beinahe sanft Ernestos Arm. »Ein Meilenstein. Das ist in der Tat ein Meilenstein. Wie lautet ihr Name, Ernesto? Es ist wirklich sehr wichtig, dass wir ihn erfahren.«
»Den. Sage. Ich. Erst. Wenn. Ich. Sie. Sehen. Durfte«, antwortete Ernesto so langsam, wie er genickt hatte.
Da war sie. Oder auch nicht. Ernesto stand da, hielt den Atem an und konnte es nicht glauben. War das wirklich Liberty Bell? Das Mädchen in dem sterilen Krankenhausbett war wie ein blasser Strich, umgeben von Krankenhausgerätschaften der unterschiedlichsten Art. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Haare nicht mehr lang und wirr, sondern kurz geschnitten und nach hinten gekämmt. Trotzdem waren sie das einzig Widerspenstige, was von ihr geblieben war. Ihre Sommersprossen waren in dem wachsbleichen Gesicht untergegangen. Sie sah so zerbrechlich aus, dass es kaum auszuhalten war. Aus einem Infusionsschlauch tröpfelte eine gelbliche Flüssigkeit in einen ihrer reglosen Stricharme, die mit Mullbinden an den Rand des Bettes gebunden waren. Links einer. Und rechts einer. Ihre Finger zuckten ab und zu, sonst lag sie ganz still.
Dr. Bolino und Dr. Oakville waren ebenfalls im Raum, natürlich.
»Was haben Sie mit ihr gemacht? Warum ist sie so – apathisch? Schläft sie?«, fragte Ernesto, nachdem er sie eine Zeit lang einfach nur angestarrt hatte. Er musste an die anderen Mädchen denken, die er kannte. Näher kannte. Liza Rodriguez. Sie war groß, laut, selbstbewusst, affektiert, das Busenwunder eben. Dann war da Portia Jenkins. Eine andere Klasse als Liza, keine Frage, aber sie kaute immerzu Kaugummi und interessierte sich hauptsächlich für Mode und angesagte Musik. Außerdem guckte sie gerne Sendungen wie American Idol und solchen Quatsch. Dann gab es unter den Mädchen, die er näher kannte, noch Nyu, die koreanische Austauschschülerin, die sich für Greenpeace engagierte und sich eine Zeit lang mit Salvador getroffen hatte. Und einmal auch mit Ernesto ausgegangen war, einen Abend. Sie hatten sich am Aberdeen Plaza sogar geküsst, aber mehr war nicht passiert. Und am Samstag danach war Nyu mit jemand anderem ausgegangen.
Und – Sally Hensley. Sie war so etwas wie eine Außenseiterin an der Schule, hatte ganz glatte, lange hellbraune Haare und trug gerne gelbe Sachen, die sie sich selbst schneiderte. Sie glaubte an Wiedergeburt und war Veganerin. Ernesto und Salvador mochten sie
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