Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
zu erzählen…
»Dr. Bolino?« Ernesto klopfte an das offen stehende Schwesternzimmer der neurologischen Station und spähte hinein.
Dr. Bolino erwartete ihn bereits. Wie es aussah, waren Dr. Oakville und Dr. Walther an diesem Nachmittag beide nicht im Dienst. Probte Dr. Bolino etwa einen Alleingang? Ernesto war das nur recht. Auf die beiden konnte er gut verzichten.
Vor ein paar Tagen hatte Baz ihm und Salva in seiner Mittagspause im Ed’s erklärt, dass Liberty Bell ab jetzt einen Vormund bei der hiesigen Jugendschutzbehörde hätte.
»Zwei Sozialarbeiterinnen kümmern sich um sie und ihre Belange«, hatte Baz berichtet. »Aber bisher konnten sie nicht viel ausrichten, obwohl sie eine Menge Zeit bei Liberty Bell verbracht haben.«
Er hatte geseufzt und einen Schluck Ginger Ale getrunken. »Ich habe die Berichte gelesen. Sie sind nicht sehr mutmachend. Liberty Bell zeigt wohl nach wie vor so gut wie keine Reaktion. Es ist, als stelle sie sich tot.«
Nacheinander betraten Ernesto und Dr. Bolino Liberty Bells Zimmer.
»Hi Liberty Bell. Ich bin es …«, sagte Ernesto leise und starrte in ihr reglos blasses Gesicht, nicht wirklich hoffend, dass sie reagieren würde. Und natürlich, da war nichts.
Verdammt, wie oft sollte er noch bei null anfangen? Was hatte sein Vater gesagt, als er nach der Nacht im Wald nach Hause gekommen war? Er solle aufhören, den barmherzigen Samariter zu spielen? Vielleicht war da doch etwas dran.
»Wir sind so pervers wohlhabend, Dad«, hatte er vor nicht allzu langer Zeit zu seinem Vater gesagt. »Warum geben wir unsere Kohle nur für Müll aus?«
»Müll?«, fragte Dr. Merrill und zog eine Augenbraue hoch.
Ernesto nickte. »Dieses Riesenhaus, deine wahnsinnige Musikanlage, die Autos, ein Pool mit olympischen Ausmaßen, Klamotten, Reisen…«
»Was sollten wir stattdessen damit machen, Ern?«
»Ich weiß nicht genau. Gutes tun«, antwortete Ernesto.
Sein Vater lächelte. »Ich spende für die Aidsforschung. Ich unterstütze ein Schulprojekt in Venezuela. Ich spende für Smiling Children, eine Kinderhilfe in Afrika. Ich bin einer der Finanziers für Ärzte ohne Grenzen und engagiere mich gegen die Todesstrafe in diesem Land. Was soll ich noch tun? Was schlägst du vor?«
Beide sahen sie zu den Mädchen aus Xi’an hinüber.
Sein Vater rollte geräuschlos zu seinem Schreibtisch im Nebenzimmer und zog eine Mappe aus einer der vielen Schubfächer. Ernesto folgte ihm langsam.
»Sie schreiben mir regelmäßig«, sagte sein Vater lächelnd und winkte Ernesto an seine Seite. »Hier, sieh dir ihre Briefe an. Sie sind jetzt acht und natürlich schreiben sie auf Mandarin, aber die Briefe werden übersetzt. Da, lies. Ich habe immer viel Spaß mit dieser Post. Schau dir ihre vielen, fröhlichen Zeichnungen an. Und Fotos liegen auch bei. Mein Kollege aus X’ian legt sie dazu…«
Ernesto lächelte den lächelnden Zwillingen einen Moment zu.
Merkwürdig, wenn er seine Mutter gedanklich ausklammerte, mochte er seinen Vater hin und wieder. Es war die Kombination aus beiden, die alles vermieste.
Sicher, man hätte ihm natürlich vorwerfen können, dass all die Spendenaktionen und guten Taten ihn ja lediglich einen Bruchteil seines Geldes und seiner Zeit kosteten. Aber andererseits spürte Ernesto, dass sein Vater nicht einfach nur spendete, wie es sich für einen wohlhabenden Amerikaner gehörte. Ihm ging es um die Sache. Ihm ging es immer um die Sache.
»Darf ich dich was fragen, Dad? Es ist allerdings etwas ziemlich – Persönliches…«
Sein Vater hob den Kopf. »Fragen kannst du alles. Ich weiß nur nicht, ob ich alles beantworten möchte…« Er grinste schief. »Also, schieß schon los, Ern.«
Ernesto hatte sich einen Ruck gegeben. »Liebst du Mom eigentlich?«, fragte er schnell, bevor er es sich doch anders überlegte und die Frage über den Jordan kickte, weil sie schwachsinnig und lächerlich war.
»Was ist das für eine Frage? Natürlich liebe ich deine Mutter«, antwortete Dr. Merrill erstaunt, während er die Briefe der chinesischen Zwillinge zurücklegte.
»Okay, was ist dann Liebe für dich?«, hakte Ernesto nach. »Ich meine, woran merkst du, dass du sie liebst?«
»Ich bin froh, sie um mich zu haben. Ich liebe den Duft ihrer Haare. Ich mag den tiefen Blick ihrer Augen. Etwas in der Art. Reicht das, Ern?«
Dr. Bolino räusperte sich und holte Ernesto in die Gegenwart zurück. »Ich lass euch beiden ein bisschen Raum, in Ordnung?«, fragte sie leise.
Sie zog sich
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