Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Jungen ziemlich genau, was Impotenz bedeutet. – Hab ich recht, Ern?«
»Warum redest du immer so schlecht über Chazza?«, fuhr Mrs Merrill bedrückt fort. »Er… er hat kein leichtes Leben. Stell dir vor, du wärst – blind…«
»Ich. Habe. Das. Hier«, war die leise Antwort seines Vaters. Er deutete auf seine Beine. »Aber ich habe dennoch eine Frau. Ein Kind. Behindert sein bedeutet nicht, ein Versager, ein Sonderling zu sein, Sondra!«
Für einen Moment musste Ernesto wieder daran denken, wie seine Mutter und Chazza sich einmal in Natashas kleinem, unscheinbarem Hauswirtschaftsraum geliebt hatten. Denn im Grunde war es nur dieses eine Mal gewesen, das Ernesto mitbekommen hatte. Okay, seinen Freunden gegenüber hatte er gesagt, seine Mom hätte hin und wieder Sex mit dem Ewig Summenden, aber das war ein Bluff gewesen, damit die Geschichte nach mehr klang. Vielleicht war es wirklich nur dieses eine Mal gewesen, wer wusste das schon. Doch wie man es auch drehte und wendete, impotent war Chazza mit Sicherheit nicht… Aber dennoch war es merkwürdig, dass er so gar niemanden hatte, der ihm etwas bedeutete, mal ausgenommen seine Mom. Warum legte er sich keine Freundin/Ehefrau zu? Das war in der Tat eigenartig. Und immer dieses Summen…
Ernesto schob diese Gedanken zur Seite, trat an Chazzas Seite und ließ es zu, dass der Ewig Summende sein Gesicht berührte, wie er es immer tat, wenn er nach längerer Abwesenheit zurückkam.
»Schön, dich zu sehen«, sagte der blinde Musiker leise und lehnte sich gegen die Stuhllehne zurück. »Aber du hast Sorgen, mein Junge, habe ich recht?«
Ja, die hatte er und es war typisch, dass der Einzige in der Runde, der das sah, ein Blinder war.
Als er gegen Mittag für eine Weile alleine mit Chazza im hinteren Teil des großen Gartens war, sprach er es aus. Diesmal ging es nicht um Liberty Bell, sondern um seine Mutter.
»Warum ist sie so, Chazza?«, fragte er. »Was hat sie? Warum ist sie immer so abwesend? Fast schon gleichgültig…«
»Sie ist nicht – gleichgültig, Ernesto«, antwortete Chazza leise. »Sie ist… traurig. Und krank – ja, vielleicht kann man es krank nennen…«
»Aber was hat sie?«, drängte Ernesto und kam sich für einen Moment wieder wie der Fünfjährige vor, der auf Chazzas Knie geklettert war und seine Hände behutsam auf Chazzas blinde Augen gelegt hatte.
»Tja, das ist eine lange Geschichte, fürchte ich«, antwortete Chazza Blume in sein eigenes Summen hinein.
»Eine Geschichte? Okay, dann erzähl sie mir. Bitte«, sagte Ernesto ungeduldig.
Chazza Blumes Augäpfel zuckten, die milchigen Pupillen darin schwammen nervös hin und her.
»Ich weiß nicht«, sagte er leise. »Ja, eines Tages, Ernesto. Aber – aber… es ist ihre Geschichte, verstehst du. Ich… ich kann sie ihr nicht… wegnehmen. Sie muss – den Zeitpunkt… bestimmen. Bis dahin… musst du warten… Ich – habe wirklich oft versucht, sie… dazu zu bringen, endlich…«
Abermals brach er ab.
Ernesto war schlagartig wieder siebzehn, fast achtzehn. Er fuhr sich eine Spur gereizt durch die Haare. Was, wenn sein Vater doch recht hatte? Wenn Chazza Blume tatsächlich einfach nur verrückt und durchgeknallt war?
»Kannst du es mir nicht doch jetzt schon – erklären?«, beharrte Ernesto. »Weißt du, früher dachte ich einfach nur, sie mag – mich nicht besonders. Aber inzwischen… inzwischen mag ich sie, glaube ich, auch nicht mehr besonders… Und das ist ein Scheißgefühl, verstehst du, Chazza?«
»Hmmmmmmmm, hhhmmmmmmm«, summte Chazza. »Es ist ihr Leben, Ernesto. Sie ist kein Kind und sie will nicht an die sprichwörtliche Hand genommen werden.«
»Ich versteh’s einfach nicht«, murmelte Ernesto, während Chazza reglos dasaß, die großen, leeren Augen in die Ferne gerichtet. »Wenn sie krank ist, muss man doch etwas tun können, oder? Was soll das für eine Krankheit sein? Depressionen? Dagegen gibt es Medikamente…«
Der Ewig Summende machte seinem Namen alle Ehre, aber seine Hand tastete dabei nach Ernestos Hand und drückte sie sanft.
»Chazza, da ist noch etwas«, fuhr Ernesto zögernd fort und schüttelte alle Gedanken an seine Mutter ab, so gut es ging. »Hast du von dem Mädchen aus dem Wald gehört, das wir entdeckt haben? Sie heißt Liberty Bell. Kann ich – kann ich dir von ihr erzählen?«
Chazza Blume nickte und lächelte und summte. Und sowohl das Nicken, als auch das Lächeln und Summen, alles wirkte traurig.
Trotzdem begann Ernesto
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