Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
sagte Ernesto und betrat lächelnd das Esszimmer. Der Ewig Summende war jetzt schon eine Weile in der Stadt, aber Ernesto hatte ihn immer wieder verpasst.
Er saß kerzengerade am langen Esstisch, sein Blindenstock lag auf seinen Knien. Er trug, obwohl es jetzt schon heiß war, dunkle Cordhosen und ein abgetragenes schwarzes Hemd. Und darüber eine bestickte dunkelrote Weste.
Ernestos Mutter wuselte um ihn herum. Wie es aussah, hatte sie das mit der toten Katze noch nicht mitgekriegt. Katze eins und Katze zwei hatten sich längst frühstückshungrig im Esszimmer eingefunden und strichen jedem, den sie erreichen konnten, maunzend um die Beine. Katze drei fehlte deutlich sichtbar, nur Ernestos Mutter schien das nicht wahrzunehmen.
Chazza Blume stammte aus derselben Kleinstadt wie Mrs Merrill. Ernesto wusste das, weil er eines Tages ein altes Jahrbuch seiner Mutter im Keller entdeckt hatte und darin das Bild eines wahnsinnig jungen Chazzas, untertitelt mit dem Namen Charles Hammond. Von selbst hatte seine Mutter kein Wort darüber verloren, wie lange sie Chazza schon kannte.
»Ist das nicht der Ewig Summende?«, fragte Portia, die an diesem Tag bei ihm hereingeschneit war, um sich seine DVD-Sammlung anzusehen, und tippte auf Chazzas Gesicht. Zufällig war an diesem Tag auch Sally Hensley da gewesen, es war ein paar Monate vor ihrer kurzen Romanze. Und so hatte es sich ergeben, dass beide Mädchen das Jahrbuch seiner Mutter durchblätterten.
Ernesto hatte genickt.
»Himmel, seine Augen«, sagte Portia. »So aufgerissen und leer und grotesk. Warum trägt er bloß keine Sonnenbrille, wie es andere Blinde tun?«
»Warum sollte er?«, fragte Sally und runzelte die Stirn.
»Na, weil es – eklig aussieht, oder?« Portia verzog das Gesicht und betrachtete das Bild aus allernächster Nähe.
»Finde ich nicht«, sagte Sally. »Warum sollte ein Blinder seine Augen verbergen? Sie gehören doch genauso zu ihm wie unsere Augen zu uns, oder?«
Ernesto mochte sie für dieses Statement.
Charles Hammond stammte jedenfalls aus ähnlich armen, trostlosen Verhältnissen wie Ernestos Mutter, aber er hatte, anders als sie, ein riesiges Talent: Klavier spielen.
Er konnte jede Melodie binnen Sekunden und aus dem Stegreif aufgreifen und nachspielen. Egal, ob man ihm eine Liedzeile vorsummte oder er irgendwo einen Liedfetzen einfing, Chazza konnte ihn augenblicklich so umsetzen, dass man eine Gänsehaut davon bekam. Und es schien, als gäbe es kein Musikstück auf der Welt, das er nicht kannte. Man konnte ihm zurufen: »Hey Chazza! Spiel mal In der Halle des Bergkönigs von Edvard Grieg. Oder Arminius von Max Bruch. Oder das – äh –Trinklied von Verdi…«
Genauso konnte man sagen: »Chazza, wie wäre es mit Call me Al von Paul Simon? Oder Babylon’s Burning von The Ruts? Oder Power in the Darkness von der Tom Robinson Band? Oder All cried out von Alison Moyet?«
»Er ist ein Genie«, sagte Ernestos Mutter oft. Für niemanden wurde ihre Stimme so warm wie für Charles Hammond, ihren alten, treuen Schulfreund aus traurigen Tagen. Und als sie Ernestos Vater heiratete und nach Old Town zog, folgte Chazza ihr sogar dorthin. Seitdem geisterte er immer mal wieder durch die Stadt. Am liebsten war er in der Nähe seiner Mutter, allerdings nicht hier im Haus, das Rampenhaus mochte er aus irgendeinem Grund nicht. Ersatzhalber ging er alleine für sich draußen durch die Wälder, die ja praktisch unmittelbar vor der Stadtgrenze zu Old Town begannen. Chazza Blume liebte die Natur und die Stille des Waldes. Stundenlang lief er dort kreuz und quer durchs Unterholz, tastete sich seine Wege, ließ sich von seinem inneren Auge treiben und hielt seine blinden Augen in den warmen Sonnenschein. Er sagte oft, er fühle sich weniger blind, wenn er sich im Sonnenlicht aufhielt.
»Er ist geistig nicht in Ordnung, Sondra«, sagte Ernestos Vater einmal, als seine Frau wieder davon anfing, welch ein Genie Chazza war. »Er ist nicht nur blind. Er ist kognitiv behindert. Seine Fähigkeit, Klavier zu spielen, ist eine Inselbegabung, nichts weiter! Sieh doch, was für ein Leben er führt. Nichts an ihm tickt normal. Zuerst einmal diese ewige Summerei! Außerdem zieht er sich an wie ein Bettler, führt dabei große Reden und ist in Wirklichkeit nichts als ein einsamer, armer, impotenter Schlucker…«
»Stan, bitte… Denk an den Jungen«, stotterte seine Mutter und deutete in seine Richtung.
Sein Vater lachte nur. »Ich bin sicher, in seinem Alter wissen
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