Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
im Jahr die Gedenkkerze für das vermisste Mädchen aufzustellen pflegte: ein dickes, hässliches, ungepflegtes Kind, weiter nichts…
»Das… das kann einfach nicht stimmen«, sagte Ernesto und schob diesen ganzen Blödsinn gedanklich weit von sich. Dann machte er es wie Darayavahush vor ihm: Er schnappte sich seine Trinkflasche, lehnte den Kopf zurück und leerte sein Ginger Ale in einem langen Schluck.
Sein iranischer Freund verzog angewidert das Gesicht, während Salvador sagte: »Verwandt müssen sie laut DNA-Test aber sein. Das steht angeblich fest, sagt Baz. Und diese Muttersache ist auch nahezu belegt. Fehlt zum Hundertprozenthaken nur noch der – na ja, eben der – Erzeuger von deinem Waldmädchen…«
»Das ist doch alles Schwachsinn«, entfuhr es Ernesto wütend.
»Das ist eher ziemlich gruselig, würde ich sagen«, verbesserte Darayavahush. »Immerhin war diese Ruby damals erst vierzehn. Aber glaubst du wirklich, das alles ist ein Zufall? Denk doch mal nach. Punkt eins: Flavio fährt mit uns raus zum Waldmädchen. Punkt zwei: Er schreibt gleich danach einen Brief an ein jahrelang verschollenes Mädchen, woraufhin ihm, Punkt drei, schließlich jemand brutal die Kehle durchschneidet? Hey, selbst du kannst nicht leugnen, irgendwas ist übel faul an der Sache.«
»Hier bin ich wieder.« Ernesto schloss die Tür hinter sich und sperrte den Klinikalltag auf diese Weise, so gut es ging, hinter ihnen aus. »Wahnsinn, du bist aufgestanden…«
Okay, aufgestanden war vielleicht nicht das richtige Wort. Liberty Bell saß in ihrem Kliniknachthemd, dazu einem schürzenartigen Krankenhausmorgenmantel und eingehüllt in ihre Klinikdecke in einem Rollstuhl am Fenster. Ihre Füße steckten in einem Paar Wollsocken. Aber sie hatte sich bewegt und Überwachungsmonitor und Blasenkatheter waren verschwunden.
»Ich… kann… nicht gut… laufen.«
»Das wird wieder, versprochen«, sagte Ernesto schnell und zog den Besucherstuhl an ihre Seite. Einen Moment schwiegen sie beide. Liberty Bell im Rollstuhl und Ernesto auf der Kante des Besucherstuhls.
»Das ist also – die Schatten-… deine Welt …«, sagte Liberty Bell dann und ihre Stimme klang dünn. Ernesto spürte ihren sekundenlangen Blick auf ihm ruhen. Dann sah sie wieder aus dem Fenster. Ihre schmalen Finger waren ineinander verschlungen, als betete sie, und ihr Profil war wahnsinnig zart.
»He nein. Das ist nicht die Welt. Das hier ist nur – Bullshit…« Ernesto machte eine vage, wegwerfende Bewegung mit der Hand.
»Bullshit?«
»Naja, Mist eben. Ich meine die Klinik. Und diesen Ausblick. Und Dr. Walther. Und all das. – Die Welt dagegen ist riesig, Liberty Bell. Ozeane, Meere, Flüsse, Seen, Bergketten, Vulkane, Wälder, Wüsten, Städte… Dörfer… Einöden… Der ganze Wahnsinn eben. Es gibt echt alles. – Bücher, Filme, Nächte am Strand, Sonnenuntergänge…«
»Ist sie… schlecht, Er… Ernesto?«
Hey, sie wusste seinen Namen und sie sprach ihn aus. Und es hörte sich schön an, wie sie ihn aussprach. Etwas holprig, aber auch weich.
»Wer? Die Welt? Nein, die Welt ist nicht schlecht«, antwortete er. »Höchstens, na ja, es gibt gute und schlechte Menschen, Dinge, Vorkommnisse. So halt. Aber es gibt auch verdammt tolle Sachen, echt!«
Wieder schwiegen sie.
»Am liebsten würde ich dich hier rausholen und dir alles zeigen, Liberty Bell. Am liebsten sofort, jetzt…«
Ernesto lächelte ihr zu.
»Meine Mutter… kannte die Welt… auch«, sagte Liberty Bell unvermittelt, ohne auf seinen euphorischen Satz einzugehen, wandte den Blick ab und betrachtete wieder den grauen Highway, den Klinikparkplatz und den verlassen daliegenden McDonald’s-Spielplatz, auf dem ein grotesk anmutender Plastik-Ronald-McDonald alleine auf der einen Seite einer Spiralwippe saß und einladend seinen dicken bunten Plastikarm schwenkte. »Sie sagte, sie sei voller… Schattenmenschen, die böse und verdorben seien. Sie hat mich immer wieder vor ihnen gewarnt…«
»Was bedeutet das eigentlich genau: Schattenmenschen?«, erkundigte sich Ernesto vorsichtig, nachdem ihm klar geworden war, dass sie im Grunde doch auf seinen Satz eingegangen war.
»Gott ist Sonne«, erklärte Liberty Bell leise. »Er hat die Welt… hell gemacht. Aber dann kam die Sünde und hat Dunkelheit gebracht. Manches, was schlecht ist, kann man gleich erkennen, weil es im Finsteren liegt. Manches ist nur im… im Schatten. Dann erkennt man nicht, dass man bereits im… im Reich des Bösen
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