Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ist. Man denkt: Alles ist gut. Aber der Schatten ist der Vorbote der Dunkelheit. Sie… sie lauert dahinter. Und sie verschlingt einen. Und vernichtet das Leben. Sie tötet…«
Ernesto nickte langsam. »Hat – deine Mom das so erlebt?«, fragte er behutsam.
Liberty Bell schüttelte den Kopf, dann nickte sie, dann schüttelte sie wieder den Kopf. »Nein, sie… sie war fröhlich. Sie war Lachen. Sie konnte laut lachen. Sie machte mich… fast immer – froh… Nur in der Nacht hat sie geweint. Manchmal. Wegen Robby.«
Ernesto erinnerte sich, dass Liberty Bell diesen Namen schon einmal gesagt hatte.
»Wer war Robby, Liberty Bell?«
Ihre Augen wurden dunkel vor Traurigkeit, während sie weitersprach. »Annies anderes Kind«, sagte sie so leise, dass Ernesto den Atem anhielt, um sie zu verstehen. »Ihr Kind vor mir. Es ist mal gestorben.«
Ernesto war verwirrt. Noch ein Kind? In diesem Wald? Warum hatte Annie Lyford sich mit ihren Kindern im Wald versteckt? Und vor wem? Aber – halt! – Liberty Bell war ja angeblich nicht einmal ihr leibliches Kind gewesen.
Ganz deutlich sah Ernesto auf einmal Mrs Franklins Fotografie von Ruby Kyriacou vor sich: dieses unansehnliche Mädchen, deren Gesicht so dick gewesen war, dass ihre Augen in all dem Fett nur Schlitze bildeten. Schon in der Grundschule hatte sie eine Klasse wiederholen müssen. Und dann, als sie es mit Miss Peachs Hilfe endlich auf die Junior-Highschool von Old Town geschafft hatte, war sie von einem Tag auf den anderen verschwunden…
Hat Ruby K. (damals vierzehn) in den Wäldern von Old Town ein Baby bekommen, ehe sich ihre Spur bis zum heutigen Tag verliert?
So stand es in der heutigen Ausgabe der Tageszeitung. Und statt Antworten zu bekommen, tauchten immer neue Fragen auf. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren.
»Hat – Robby mit euch zusammen in dieser Hütte gelebt, Liberty Bell?«, fragte Ernesto.
Liberty Bell schüttelte den Kopf.
»Er starb… in der Schattenwelt«, sagte sie. Mehr nicht.
Verdammt, so hatte Jaden sich die Sache nicht vorgestellt. Alles war schiefgegangen. Warum ging bei ihm nur immer alles schief?
Er hätte längst mit den anderen sprechen sollen, von Anfang an hätte er das tun sollen. Und er hatte es ja auch vorgehabt. Aber die Idioten hatten überhaupt nicht zugehört.
Selbst schuld, also.
Jaden presste die Augen zusammen. Hinter seinen Schläfen hämmerte ein dumpfer Schmerz und das Licht heute Morgen erschien ihm unnatürlich hell.
Er dachte zurück an den Abend, als er die Garage hatte aufräumen sollen und an den darauffolgenden Morgen. Er hatte Ernesto getroffen. In der Georgia Avenue. Bei Tenenbaum’s. Aber Ernesto hatte ihn abgeschüttelt, als sei er nichts weiter als – ein lästiges Insekt.
Jaden fühlte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte und in seinem Bauch landete, in dem es übel rumorte.
Er zwang sich, tief ein- und auszuatmen. Er war am Zug. Alles war okay. Er hatte die Macht. Endlich hatte er mal die Macht.
Eigentlich war es der pure Zufall gewesen. Erst hatte er es nicht kapiert, hatte es einfach nicht gesehen, so dermaßen viel Zeug war in der Garage gewesen, Überreste von den letzten hundert Pfadfinder-B-&-K’s, die er und Otis entsorgen sollten. Doch dann hatte er entdeckt, was hinter diesem scheußlichen Mona-Lisa-Druck klemmte.
Ja, er hatte eine Menge herausgefunden. Über Ruby Kyriacou. Über einen geheimnisvollen Panther. Über die Vorkommnisse vor fast zwanzig Jahren.
Am Anfang hatte er sich gefragt, ob er zur Polizei gehen sollte. Aber dort saß dick und rund und selbstzufrieden Deputy Chief Bill Abbott herum, der verdammte Onkel von Mose Meyerowitz…
Sollte er etwa an den seinen Triumph abtreten? Sollte sich ausgerechnet dieser Wichtigtuer an seiner Stelle stolz der Presse präsentieren? Am Ende würde sich auch noch Mose in die Geschichte reinhängen. Er kannte doch Mose.
Immer und überall kamen ihm seine sogenannten Freunde in die Quere. Ronan, Salva, Dara und Mose.
Und Ern. Ern, der es noch bereuen würde, dass er ihm nicht zugehört hatte.
Wenn ihm nur nicht so beschissen schlecht gewesen wäre…
Sein Kopf dröhnte, als arbeiteten hundert wild gewordene Maschinen darin. Dazu war ihm schwindelig. Außerdem waren seine Arme irgendwie zu lang. Und zu weit vom Rest seines Körpers entfernt. Was war nur los mit ihm? Wenigstens ließ der Krach in seinem Schädel allmählich nach. Dafür schien er sich mit Watte zu füllen – irgendwie aufzuquellen…
Er brauchte etwas zu
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