Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
gesungen, als ich bei dir war…«
»Ich erinnere… mich.« Liberty Bell sah ihn halb an und halb nicht an, während sie weitersprach. Wie immer suchte sie eine Weile nach den richtigen Worten. »Ich habe… nicht geschlafen, weißt du. Ich war… aufgeregt, weil du – gekommen warst. Ich war sehr lange alleine, musst du wissen…«
Etwa drei Jahre, schoss es Ernesto durch den Kopf. So hatte es in der Zeitung gestanden. So hatten es die Pathologen anhand von Annie Lyfords Skelett ausgerechnet.
»…und dann kamst… du. Wie aus dem Nichts… Ich hatte so lange mit niemandem mehr gesprochen. Außer mit meinen Tieren…«
Ernesto wünschte sich, sie hätte ihre Fingerspitzen auf seinem Arm gelassen, und er schaute auf ihre jetzt fest ineinanderverhakten Finger. Heute trug sie einen wenig ansehnlichen hellbeigen Jogginganzug. General Hospital stand auf einem kleinen angenähten Schild.
»Zuerst hatte ich schreckliche Furcht vor dir. Ich dachte an das, was meine Mutter mir… über die Menschen draußen in der Welt gesagt hatte. Sie war immer mal wieder in den Schatten, musst du wissen. Dann kam sie zurück mit fremden Dingen. Medizin. Werkzeug. Aber auch Bücher. Und jedes Mal hat sie mir erzählt, wie sehr ich mich hüten muss vor ihnen… Aber ich hab sie bei dir nicht gesehen, verstehst du? Die Schatten, meine ich.«
Die junge Nutriaratte schien es mittlerweile zu bereuen, dass sie als Letzte in der Hütte auf Liberty Bells Rückkehr gewartet und so in Ernestos Hände geraten war. Vielleicht war sie es aber auch einfach nur leid, in einem schnöden Katzentransportkorb ihr Dasein zu fristen. Jedenfalls revoltierte sie an diesem Vormittag enorm mit irren Klagelauten und wildem Gekratze an den Plastikwänden der Box.
»Sie muss zurück«, sagte Liberty Bell. »Kannst du sie für mich – zurück in… den Wald bringen, Ernesto?«
Ernesto warf ihr einen Blick zu.
»Okay«, sagte er dann leise und nickte.
»Wenn ich nur mitkönnte«, flüsterte Liberty Bell. »Was wird mit mir? Was haben – sie mit mir vor? Weißt du das?« Angst schwang in ihrer Stimme mit. »Gestern waren – sie wieder da…«
»Wer war da?«
Liberty Bell biss sich auf die Lippen. »Die Frauen… die sich um mich kümmern sollen. Essence und… Leslie…«
Ernesto erinnerte sich vage, Baz hatte irgendwann davon gesprochen, in einem Leben vor Jadens Tod. Liberty Bells Sozialarbeiterinnen. Oder Integrationshelferinnen, wie Baz sie nannte.
»Es… es war schrecklich, Ernesto. Ich musste nach – draußen. Sie sagten, ich müsse mutiger werden.« Liberty Bells Gesicht war blass geworden. Noch blasser als sonst. »Ernesto! Ich war immer mutig. Aber – ich wollte nicht in diesen – Kasten mit den Türen steigen. Sie bewegen sich.« Tränen traten in ihre Augen. »Diese Türen… woher weiß ich, dass sie mich… nicht zerquetschen?«
Ernesto betrachtete Liberty Bell einen Moment, ehe er sie wegen der Fahrstühle beruhigte. Himmel, war sie rührend. Und hübsch. Aber so hilflos und am Rande von allem. Wie sollte sie nur klarkommen in dieser stressigen, komplizierten Welt? YouTube, Bankautomaten, Straßenverkehr? Beruf, Mobbing, Supermärkte oder Horrorszenarien wie… wie, keine Ahnung, Amokläufe und solche Sachen? Und nicht zuletzt tragische Unfälle wie Jadens Tod? Und Morde – wie der an Flavio…? Die ganze, verdammte Schattenwelt eben, vor der Annie Lyford sie vermeintlich geschützt hatte – draußen in den tiefen Wäldern…?
»Was… was wird nur mit mir?«, fragte Liberty Bell in diesem Moment erneut.
Ernesto schwieg noch einen Augenblick und dachte an das Gespräch, das er an diesem Morgen mit seinem Vater geführt hatte, ehe der in seine Klinik aufgebrochen war.
»Wie geht es weiter mit ihr, Dad?«, hatte er gefragt. Immerhin war sein Vater am Abend zuvor mit Dr. Walther zum Golfen gewesen.
»Mit wem?«, fragte Dr. Merrill zerstreut und betrachtete ein paar Röntgenaufnahmen.
Sie redeten eine Weile hin und her. Über Liberty Bells Möglichkeiten, über Dr. Walthers Prognosen, sogar über die Sache mit Ruby Kyriacou.
»Glaubst du, die Sache stimmt?«, fragte Ernesto.
Sein Vater glaubte es, weil er die Wissenschaft für unfehlbar hielt. Die Sache mit den DNA-Spuren an Ruby Kyriacous Stoffelefanten und die daraus hervorgehende Übereinstimmung mit Liberty Bells Genen waren für ihn unumstößlich.
»Aber das ist unmöglich«, erwiderte Ernesto ärgerlich. »Du kennst doch die Miseryfamilie… Wie sie aussehen…Wie sie
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