Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
fort. Wer bin ich? Warum bin ich – allein?«
In Ernestos Kopf tobte ein Kampf. Die Geschichte entwickelte sich viel komplizierter, als er gedacht hatte. Wie es aussah, war es seine Aufgabe, Liberty Bell zu erklären, wie der Stand der Dinge war. Aber wie würde sie reagieren? Würde sie aufhören – ihn zu mögen, ihm zu vertrauen, wenn er ihr von Ruby Kyriacou und der Miseryfamilie aus Wood Green und all den irren Vermutungen erzählen würde, die täglich durch die Medien schwirrten? Dass alle Welt darüber nachdachte, wer wohl der Kerl gewesen war, mit dem die kleine, fette Ruby Kyriacou ein Verhältnis mit ungeahnten Folgen gehabt hatte? Dass sie diese Folge war, wenn man so wollte? Dass Ruby Kyriacou sie, so mutmaßte die Polizei, gleich nach der Geburt im Wald ausgesetzt hatte und danach spurlos verschwunden war?
»Zuerst dachte ich, Mr Lyford lügt. Über Annie«, sagte Liberty Bell in diesem Moment, den Kopf auf den angewinkelten Knien. »Aber es – es war eine große Traurigkeit in ihr. Eine alte Traurigkeit. Sie war immer um sie. – Jetzt verstehe ich es. Sie hat früher selbst schlechte Dinge getan. Schattenweltdinge. Aber dann hat sie ihren Frieden mit Gott gemacht. Und sie hat versucht, bei mir alles gut und richtig zu machen. Sie war immer da. Seit ich denken kann.« Liberty Bells Stimme war wieder lauter geworden. »Aber warum ist jetzt alles falsch? Warum hat sie mir Falsches gesagt? Warum weiß ich nicht, wer ich bin?«
Ernesto stieß sich mit dem Fuß von dem Luftschacht der Klimaanlage ab, die sich unter dem Fenster befand, vor dem er gelehnt hatte, um Liberty Bell nicht zu bedrängen in ihrer Verwirrung. Vorhin, nachdem die anderen gegangen waren, hatte er versucht, sich ihr zu nähern, aber sie war zurückgewichen.
»Nicht«, hatte sie heftig gesagt. »Bitte. – Ich… ich kann nicht… Niemand soll mich… anfassen, berühren… Niemand. Ich will nicht… hier sein. Verstehst du?…«
Irgendwann war Sally aufgebrochen, weil sie an diesem Wochenende an einem Ausdruckstanzkurs teilnahm und sowieso schon spät dran war.
»Soll ich – auch gehen?«, hatte Ernesto vorsichtig gefragt.
Aber Liberty Bell hatte reglos den Kopf geschüttelt. Wenigstens das. Und darum war er geblieben und hatte stumm abgewartet.
Zwischendurch hatte sein Mobiltelefon mehrfach gesummt, aber Ernesto ließ es unbeachtet.
»Was… ist das immer für ein Ton?«, fragte Liberty Bell jetzt ungeduldig, gerade als Ernesto zu reden beginnen wollte.
»Du meinst – das da?«, gab er verwirrt zurück und zog sein Handy aus der Hosentasche. Es summte tatsächlich schon wieder.
Liberty Bell nickte eine Spur gereizt.
»Tja, das ist… ein Telefon«, sagte Ernesto und wusste nicht so richtig weiter. Wollte Liberty Bell jetzt etwas über ihre komplizierte Herkunft erfahren? Oder tat es auch erst einmal ein profanes Gespräch über den kommunikationstechnischen Standard von heute, den sie, weil sie schließlich das medienbekannte Waldmädchen war, verpasst hatte?
»Die Leute können sich damit anrufen. Von überall her. Praktisch jeder hat so eins«, sagte Ernesto vage.
Ernesto hatte Liberty Bell das kleine schwarze Gerät in die Hand gelegt und sie betrachtete die spiegelnde Oberfläche. Verrückt, dieser Anblick. Wahrscheinlich war Liberty Bell das einzige Mädchen von ganz Nordamerika, das noch nie ein Mobiltelefon in den Händen gehalten hatte.
»Man kann auch Musik mit dem Ding hören. Und Fotos machen. Und Filmaufnahmen. Und ins Internet gehen…«, erklärte Ernesto, bevor er sich ins Gedächtnis rief, dass sie natürlich auch nicht wusste, was das Internet war.
Aber Liberty Bell nickte nur langsam. »Der böse Mann, der mit deinem Freund Jaden in meine Hütte kam, er hatte auch so etwas dabei«, sagte sie und für einen Moment wurden ihre Augen dunkel.
Der böse Mann war Cal Wyludda und Ernesto musste wieder an das denken, was Annie Lyford Liberty Bell über Männer gesagt hatte. Dass sie Müll seien. Verachtenswert. Jetzt, nachdem er die Geschichte ihres Lebens kannte, oder doch zumindest Fragmente daraus, verstand er diese Aussage besser. Annie Lyfords Vater, der ihn fatal an seinen eigenen erinnerte, dann ihre Freunde, mit denen sie Drogen genommen hatte und die darum keine wirklichen Freunde gewesen sein konnten. Außerdem die Dealer, bei denen sie sich ihren Stoff besorgt haben musste. Irgendwie war ein großer Teil von Annie Lyfords Lebens verpfuscht gewesen, keine Frage, aber Liberty Bell kannte als
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