Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
sich zusammen. Über was zerbrach er sich da nur den Kopf? Klar konnte sogar jemand wie Jaden sein Bike ausnahmsweise mal über eine Straße schieben, daran war nichts verkehrt. Nur das Ergebnis war in diesem Fall eben verheerend gewesen.
»Da – das ist Jaden«, sagte Ernesto jetzt leise und tippte auf ein Foto von Jaden in Sportklamotten.
»Da sieht er nett aus«, stellte Liberty Bell fest, nachdem sie das Foto eine Weile betrachtet hatte. »Man verschwindet, wenn man stirbt«, sagte sie leise. »Ich habe es bei… bei Annie gesehen. Kleine Tierchen krabbelten über sie und sie verschwand unter ihnen. Jeden Tag verschwand ein bisschen mehr von ihrer Hülle.«
Ernesto schauderte leicht unter diesen Worten. Liberty Bell sah es und warf ihm einen fast sanften Blick zu. »Aber es bleibt auch etwas. Der Geist, die Seele. Sie verschwinden nicht…«
Ernesto nickte.
»So war es auch mit – mit meiner…« Diesmal sagte sie Mom und betonte das Wort nachdrücklich, wenigstens kam es Ernesto so vor. »Ich weiß nicht genau, was passierte. Eigentlich ging es ihr ganz gut. Aber sie hatte mir erzählt, dass sie manchmal Kummer mit ihrem… ihrem Herzen hatte. Das war schon lange so. Manchmal war ihr ein paar Tage lang nicht wohl deswegen. Dann legte sie sich hin und ruhte aus.«
In diesem Moment öffnete sich die Patientenzimmertür und eine Krankenschwester schaute herein. »Da ist ja immer noch jemand«, sagte sie überrascht und leicht vorwurfsvoll. »Junger Mann, die Besuchszeit ist aber schon sehr lange um.«
»Einen Moment noch. Nur einen kurzen Moment. Bitte«, sagte Liberty Bell. Die mexikanisch aussehende Krankenschwester nickte glücklicherweise und stellte im Hinausgehen ein Fünfminutenultimatum.
»Sie hatte manchmal schlimme Schmerzen tief in ihrer Brust und konnte dann für eine Weile nur schlecht atmen«, fuhr Liberty Bell hastig fort, nachdem die Schwester die Tür hinter sich zugezogen hatte. »Sie sagte dann traurig, dass sie früher nicht sehr gut auf sich geachtet hätte – und jetzt sei sie eben manchmal schwach deswegen…«
Liberty Bell schaute einen Moment vor sich hin. »Nicht auf sich geachtet …«, wiederholte sie dann mit einem bitteren Unterton. »Drogen genommen, hat ihr Dad gesagt. Was sind Drogen, Ernesto? – Gift? Ich habe so etwas in einem der Hefte gelesen, die Leslie und Essence mir gegeben haben.«
Sie wartete auf eine Antwort, das war nicht zu übersehen. Ihr Blick bohrte sich in seinen. Ernesto seufzte. Verdammt, warum war es ausgerechnet seine Sache, Liberty Bell so viele schreckliche Dinge erklären zu müssen? Aber es gab kein Drumherum. Darum nickte er langsam.
»Ja, Drogen sind Gift. Das ist ein… Riesenproblem in der Welt. Drogen. Mist. Eine Menge Leute nehmen solches Zeug. Und es macht krank und kaputt, Liberty Bell. Man… man sollte natürlich die Finger von solchem Zeug lassen, da hat Mr Lyford schon recht gehabt…«
Liberty Bells Blick hing an seinen Lippen. Sie schwieg und sah schrecklich traurig und mitgenommen aus. Ernesto nahm seinen Mut zusammen und legte den Arm um ihre schmale Schulter.
»Eines Morgens jedenfalls …«, fuhr Liberty Bell fort, ohne daran Anstoß zu nehmen, und Ernesto atmete innerlich auf, »ging es ihr gar nicht gut. Sie war sehr blass und sie hatte wirklich starke Schmerzen diesmal.«
»›Was… was ist mit dir, Mom?‹«, fragte ich.
»›Oh, Liberty Bell‹«, sagte sie nur. Mehr nicht.
Ich sah, dass ihre Ohren ganz grau waren. Außen. Am Rand. Es sah – schrecklich aus …«, flüsterte Liberty Bell und einmal mehr wünschte Ernesto das verdammte Krankenhaus weit weg. Jeden Moment würde die mexikanische Nachtschwester wiederkommen und dieses Mal würde er gehen müssen, so viel stand fest. Plötzlich hatte er seinen Lieblingsplatz am Cedar Creek vor Augen. Das Bachbett im Sonnenlicht, die hohen Kiefern, der nadelübersäte Waldboden, auf dem helle Lichttupfen tanzten. Dorthin wollte er mit Liberty Bell gehen. Dort würde es ihr bestimmt gefallen. Und der Cedar Creek war gar nicht so weit von hier entfernt…
»Und dann starb sie einfach«, sagte Liberty Bell in diesem Moment und legte wieder ihre Hände vor ihr Gesicht. »Sie sagte noch, ich solle auf mich aufpassen und sie nicht vergessen. Und sie war irgendwie unruhig, weil da noch etwas wäre, wofür keine Zeit mehr wäre. Sie hatte auf der Wiese im halbhohen Gras gesessen, aber jetzt legte sie sich hin und rollte sich wie ein Tier zusammen. Wie ein krankes
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