Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
diesem engstirnigen Ärzteteam.
»Nein, das ist ganz und gar unmöglich. Alleine aus Datenschutzgründen …«, feuerte Dr. Oakville gereizt in Dr. Bolinos Richtung, aber da machte Dr. Walther eine überraschend harsche Geste. »Die beiden bleiben«, beschied er kurz und unmissverständlich und Ernesto blieb keine Zeit, sich darüber zu wundern, da klopfte es bereits an die Tür.
»Dr. Bolino?«, fragte eine Mitarbeiterin der Krankenhausverwaltung und streckte den Kopf durch den Türrahmen. »Wären Sie dann so weit?«
Spencer Lyford war ein kleiner, hagerer Mann. Phyllis Lyford glich das aus, indem sie groß und kräftig und voluminös schien, obwohl sie ebenfalls schon über achtzig Jahre alt war, wie Ernesto aus der Zeitung wusste.
Mrs Phyllis Lyford (81), eine trauernde Mutter: »Es ist nun schon so lange her, dass sie aus unserem Leben verschwand …«, hatte die Old Town Daily News vor einigen Tagen geschrieben.
»Hab keine Angst. Es… es wird schon gut gehen. Denk positiv«, flüsterte Sally Liberty Bell halb laut zu.
Mr Lyford tappte bedächtig näher. Sein Gesicht war fast so grau wie der Anzug, den er trug. Unter seinen Augen hingen tiefe, faltige Tränensäcke. Seine Frau folgte ihm dicht auf den Fersen.
Ernesto hatte den Eindruck, der Raum platze aus allen Nähten. Die drei Ärzte, die Sozialarbeiterin, das Ehepaar Lyford, die Klinikmitarbeiterin, er selbst, Sally – und Liberty Bell, die reglos neben ihrem Bett stand und die Besucher anblickte wie ein Kaninchen die Schlange, aber so wahnsinnig hübsch in Sallys grünem Strickkleid aussah.
Sicher wäre es das Beste gewesen, in einen der beiden Besucherräume zu gehen, die es auf der Station gab, aber niemand sprach es an. Die Klimaanlage im Raum gab unterdessen ihr Bestes, indem sie kontinuierlich immer neue, kühle Luft gegen die unterschiedlichen, angespannten Schweißausdünstungen der Versammelten nachschob. Ernesto spürte sie dankbar in seinem Gesicht.
»Das ist also das – Kind?«, fragte Spencer Lyford schließlich.
»Ja, das ist sie«, antwortete Dr. Walther.
»So, so.« Mr Lyford sank auf den Besucherstuhl.
»Ein dünnes Ding…«, sagte Mrs Lyford und Ernesto konnte nicht heraushören, ob sie es freundlich oder geringschätzig meinte. Dr. Bolino brachte unterdessen einen zweiten Besucherstuhl von irgendwoher.
»Liberty Bell«, sagte Mr Lyford langsam. »Freiheitsglocke… Ein – verrückter Name, aber – nun gut.«
»Meine… meine Mutter hat ihn für mich… ausgesucht …«, antwortete Liberty Bell leise. »Ich – ich mag ihn…«
Die Worte hingen im Raum, während Mrs Lyford leise zu weinen begann.
»Nun lass das doch mal, Phyllis«, sagte Mr Lyford halb laut zu seiner Frau, die, trotz des angebotenen Stuhles, wie angeklebt hinter ihm stand. Dann wandte er sich erneut an Liberty Bell, die ebenfalls immer noch reglos vor ihrem Bett verharrte. Sally war an ihrer Seite und Ernesto sah, wie sie Liberty Bells Hand nahm und festhielt. Er spürte einen leisen Stich Eifersucht. Gerne wäre er an Sallys Stelle gewesen.
»Mein Kind, kannst du uns erzählen… hat unsere Tochter – jemals mit dir über uns gesprochen? Über ihr Leben in Los Angeles? – Und über… Robert?« Mr Lyford ließ Liberty Bell nicht aus den Augen. Er erinnerte Ernesto in diesem Augenblick an ein Raubtier, das den passenden Moment abwartete, um seine Beute anzuspringen und mit einem Bissen zu verschlingen.
Liberty Bell nickte, aber sie schien keine Worte zu finden. Unter dem Blick von Mr Lyford wurde sie noch kleiner und dünner.
Die Klimaanlage summte, Mrs Lyford schluchzte leise vor sich hin, Mr Lyford atmete keuchend und Liberty Bell versuchte mühsam, Worte zu formen, die sie über ihre blassen Lippen manövrieren konnte. Alle anderen waren still.
»Sie… schloss Sie in ihre Gebete mit ein«, brachte Liberty Bell schließlich hervor und schaute dabei Mrs Lyford an. »Mehr könne sie nicht für Sie tun. So sagte sie…«
Einen Moment war es völlig still.
»So. Mehr konnte sie nicht tun«, wiederholte Mr Lyford dann und seine Stimme klang wie ein Konglomerat aus Bitternis, Enttäuschung, Wut und Frustration. »In ihre Gebete? Und mehr hat sie nicht von uns erzählt?«
Liberty Bell sah ihn ängstlich an und wäre wohl gern zurückgewichen, wenn nicht das Bett sie daran gehindert hätte. Selbst wenn ihr Annie mehr gesagt hatte, es war ganz offensichtlich, dass sie viel zu eingeschüchtert war, um darüber zu sprechen. Und warum auch? Die Leute
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