Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
besaß, die er damals von ihr gemacht hatte? In ebendiesem Moment lauschte Ronan konzentriert Mose, der ihm alle Neuigkeiten berichtete, die in den letzten Tagen vorgefallen waren.
»Was hast du, Ernesto? Was ist mit dir?«, fragte Liberty Bell unterdessen mit gedämpfter Stimme. Auf ihren Knien stand die zweckentfremdete Katzenkiste mit der Ratte. »Du bist ganz anders, seit du in deinem Haus gewesen bist.«
Zuerst schüttelte Ernesto nur den Kopf, aber dann sagte er doch: »Meine Mutter. Es ist wegen meiner Mutter. Es geht ihr nicht gut. Ich mache mir Sorgen, weißt du.«
»Was – was ist mit ihr? Ist sie – krank?«
Liberty Bell hielt sich bei dieser Fahrt zum ersten Mal nicht mehr an ihrem Sitz fest. Das war doch schon einmal ein Fortschritt, oder? Und jetzt, unterwegs Richtung Küste, mit ihr, kam Ernesto die Situation auf dem Dachgarten auf einmal völlig irreal vor. Er winkte ab. »Ein andermal, okay?«, sagte er. Liberty Bell nickte und lehnte in der Dunkelheit ihren Kopf leicht gegen seine Schulter. »Kannst du fahren, wenn ich so nah bei dir bin?«, fragte sie leise.
»Am liebsten nur noch so«, antwortete Ernesto ebenso leise.
Mose und Ronan taten ihnen den Gefallen und schliefen sehr bald auf der Rückbank ein. Ernesto warf einen Blick über seine Schulter.
»Woran denkst du?«, fragte er, weil Liberty Bell wieder schwieg. Ihr Blick war nach vorn auf die dunkle Straße gerichtet.
»An… Annie. – Immer noch will ich Mom sagen«, antwortete Liberty Bell leise. »Und das wird sie für mich auch bleiben: meine Mutter. Trotzdem, es ist so merkwürdig. Annie muss – früher – in ihrem alten Leben doch auch so in Autos gefahren sein. So, wie wir jetzt. Unterwegs nach… irgendwohin. – Warum ist sie in dieser Welt so unglücklich geworden? – Nahm diese Gifte? – Hasste die Menschen um sich herum?« Sie sah zu ihm hinüber und in ihren Augen standen Ratlosigkeit und Trauer.
Ernesto streichelte für einen Moment mit einem Zeigefinger ihr kühles Gesicht. »Ich weiß es nicht«, sagte er dabei. »Leider nicht. Sie – hat einfach Pech gehabt, schätze ich. Zuerst ihre Eltern, die sie anders wollten, als sie war. So was ist immer Mist. – Und dann wohl auch falsche Freunde, schlechte Ratgeber. Und wenn man einmal drin ist in diesem Teufelskreis aus Drogen… Es ist ganz schwer, da wieder rauszukommen.«
Liberty Bell nickte bedrückt. »Sie sagte oft, wie froh sie über unser verborgenes Leben im Wald sei. Und sie hatte schreckliche Angst davor, dass jemand uns eines Tages entdecken könnte.« Liberty Bell seufzte. »Wenigstens das ist ihr erspart geblieben…«
Ernesto dachte an Annie Lyfords Grab. Ob er es wagen konnte, danach zu fragen? Aber ehe er auch nur den Ansatz einer Frage formuliert hatte, sprach Liberty Bell ganz von selbst.
»Als sie starb, saß ich drei Tage einfach nur neben – ihr. Ich war wie gelähmt vor Entsetzen. Ich sah zu, wie sie sich veränderte. Am ersten Tag war sie noch ganz sie selbst. Aber dann muss ihre Seele davongeschwebt sein. Ihr Gesicht sah am dritten Morgen ganz… anders aus. Leer. Abwesend. So, als… als wäre sie bereits weit, weit weg.«
Liberty Bells Stimme zitterte leicht. »Ich… ich konnte sie nicht heben. Es… es gelang mir einfach nicht. Zum Schluss zog ich sie nur ein paar Meter weiter. Mehr schaffte ich nicht. Es war schrecklich, es zu tun. Und dann, als immer mehr – kleine Tiere kamen und… und über sie krabbelten, begrub ich sie mit diesen Steinen…«
Liberty Bell öffnete die Hand. Darin lag der kleine Stein, den Ernesto ihr in die Klinik gebracht hatte. »Aber ich schaffte es nicht, sie ganz und gar – einzusperren«, fuhr sie flüsternd fort. »Ich ließ ein Fenster offen, um sie nicht ganz – zu verlieren…«
Ernesto warf Liberty Bell einen Blick zu. Er selbst hatte damals das Gleiche gedacht, an jenem Abend, als er Annies Grab entdeckt hatte. Ein Fenster für die Tote.
Der Highway war jetzt wie ausgestorben, der Mond schien hell, der Himmel war indigoblau und Liberty Bells Profil sah rührend aus. Irgendwie kindlich und gleichzeitig völlig zeitlos. Sie hatte in diesem Augenblick einen Ausdruck im Gesicht, den auch ein uralter Mensch hätte haben können.
»Hey…«, sagte Ernesto behutsam, um sie zurückzuholen. Und es gelang. Liberty Bell wandte langsam den Kopf. »Ich überlege oft, was passiert wäre, wenn ihr nie gekommen wärt. Vielleicht wäre ich für immer – dort geblieben. In dieser Hütte. In diesem Wald.
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