Licht
Maú.
»Aber du brauchst doch eine Stimme, Liebes…«
Sie hatte nicht die Zeit zu debattieren. Plötzlich wollte sie das Cultivar mit allem Drum und Dran. »Brückt mich rein«, sagte sie.
Sie brückten sie rein. Unter der Wucht dieses Vorgangs verlor das Cultivar die psychomotorische Kontrolle über sich und fiel rücklings gegen ein Schott. »Oh«, murmelte es. Es rutschte, verwirrt auf seine Hände starrend, zu Boden. »Bin ich ich?«, fragte das Mädchen. »Willst du nicht, dass ich ich bin?« Sein Blick kippte immerzu hoch und nach unten, es rieb sich zwanghaft das Gesicht. »Ich weiß nicht genau, wo ich bin«, sagte es, schüttelte sich und kam auf die Füße und war Seria Maú Genlicher. »Ahhh«, raunten die Schattenoperatoren. »Kann es Schöneres geben?« Art déco-Bodenleuchten fluteten den Raum mit einer perlmuttfarbenen Helligkeit, flackernd aber siegreich, derweil wiederentdeckte Choralwerke von Janácek und Philip Glass den Raum füllten. Seria Maú starrte umher. Sie fühlte sich nicht ›lebendiger‹ als in ihrem Tank. Wovor hatte sie solche Angst gehabt? Körper waren ihr nicht neu und außerdem: Der hier hatte ihr noch nie gehört.
»Die Luft schmeckt nach nichts hier drinnen«, sagte sie. »Sie schmeckt nach nichts.«
Die Dr.-Haends-Einheit lag vor ihr am Boden, eingesperrt in Onkel Sips roten Karton mit dem grünen Satinband – der, wie ihr aufging, eine Art Metapher war für den aktuellen Maulkorbmechanismus, den der Genschneider benutzt hatte. Sie betrachtete den Karton eingehend, als könne er, mit richtigen Menschenaugen betrachtet, vielleicht anders aussehen. Dann kniete sie sich hin und warf den Deckel zurück. Augenblicklich begann ein cremefarbener Schaum herauszuquellen. The Photographer (* Musikdrama in drei Akten, Musik von Philip Glass.)(eine Neubearbeitung anhand von fünf noch identifizierbaren Noten auf einer verdorbenen Audio-CD durch den Komponisten Onotodo-Ra, 22. Jahrhundert) verblasste zu der Berieselung, für die diese Musik sich so eignete. Darüber ertönte ein freundlicher Gong und eine weibliche Stimme rief: »Dr. Haends. Dr. Haends in die Chirurgie, bitte.«
Unterdessen bemühte sich in einer dunklen Ecke des Raums der Kommandant des nastischen Schiffes Touching the Void – der allerdings seit der Kollision mit Onkel Sips K-Schiff nach eigener Auslegung tot war – um eine stabile Erscheinungsform. Er sah nur mehr aus wie ein undichter Käfig aus Insektenbeinen, doch so lange sein Schiff existierte, so lange trug er Verantwortung. Auch für Seria Maú Genlicher. Er fand es beeindruckend, dass sie zu noch sinnloserem Verhalten fähig war als es die meisten Menschen ohnehin schon waren. Er hatte verfolgt, wie sie ihre eigenen Artgenossen getötet hatte; die Grausamkeit, mit der sie es getan hatte, verriet großen Kummer. Aber sie gehörte, wie er gleich bemerkt hatte, zu denen, die sich mehr als nötig plagten; und das fand seinen Respekt, ja, seine Bewunderung. Das war ausgesprochen nastisch. Und daher, wie er mit Erstaunen zur Kenntnis nahm, empfand er ihr gegenüber eine gewisse Fürsorgepflicht, der er seit seinem Tod nachzukommen versuchte. Er hatte getan, was in seiner Macht stand, um sie vor der Krishna Moire zu schützen. Noch wichtiger, er hatte sich bemüht, ihr mitzuteilen, was er wusste.
Er glaubte kaum, dass er sich noch an alles erinnern konnte. So hatte er zum Beispiel keine klare Vorstellung mehr, warum er ausgerechnet mit Onkel Sip zusammengearbeitet hatte; obwohl – hatte der ihm nicht versprochen, Billy Ankers Entdeckung mit ihm zu teilen? Ein ganzer Trabant voll unberührter K-Tech! Am Vorabend eines neuerlichen Krieges mit den Menschen war das ein zweifellos attraktives Angebot. Trotzdem mussten ihm nach dem Versuch, die Dr.-Haends-Einheit zu verkaufen, erste Zweifel gekommen sein. Onkel Sip hatte sich schwer getan. Er hatte lediglich etwas geweckt, was nur darauf gewartet hatte. Weder er noch die nastischen Schneider hatten eine Ahnung, um was es sich dabei handelte. Es war sehr viel intelligenter als alle seine Vorgänger. Es hatte ein Bewusstsein, das zu begreifen Jahre dauern mochte. Falls es früher einmal gewesen war, was es nach Ansicht von Onkel Sip war – ein Paket von Maßnahmen, das in der Lage war, die Brücke zwischen Operator und Code zuverlässig aufzuheben: eine Art Tool zum Abmustern oder Desertieren – dann war es das ganz und gar nicht mehr.
Es war lebendig und es war auf der Suche nach anderem K-Code: Es suchte
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