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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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»Solchen Hunger hatte ich nicht mehr«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild im Bad, »seit… seit…« Es war so lange her, dass sie es nicht mehr wusste.
    Sie wartete drei Tage auf ihn. Sie spazierte auf den Dünen, fuhr in die Innenstadt, putzte das Strandhaus von oben bis unten. Sie aß. Einen Großteil der Zeit saß sie einfach nur mit untergeschlagenen Beinen in einem Sessel und lauschte dem Nachmittagsregen am Fensterglas und ließ alles Revue passieren, was mit Michael zu tun hatte. Immer mal wieder schaltete sie den Fernseher ein, doch meistens ließ sie ihn aus, starrte nachdenklich auf den Schirm und versuchte sich auszumalen, was sie in ihrer letzten gemeinsamen Nacht getan hatten.
    Am Morgen des dritten Tages stand sie vor der Haustür und lauschte dem Gezänk der Möwen über dem Strand. »Du wirst vorerst nicht zurückkommen«, sagte sie und ging ins Haus, um ihre Sachen zu packen. »Du wirst mir fehlen«, sagte sie. »Wirklich, Michael.« Sie trennte die externe Festplatte von seinem Laptop und versteckte sie unter einer Lage Kleidung. Da sie nicht wusste, ob der Datenträger das Durchleuchten am Flughafen vertrug, nahm sie ihn gleich wieder heraus und ließ ihn in ihre Handtasche gleiten. Sie würde sich am Infoschalter erkundigen. Sie hatte nichts zu verbergen und ging davon aus, dass die Platte passieren konnte. Zurück in London, wollte sie Brian Tate ausfindig machen und ihn – egal, wie es um ihn stand – bitten, Michaels Arbeit fortzuführen. Falls Tate ablehnte, musste sie jemanden von Sony anrufen.
    Sie schloss das Strandhaus ab und lud das Gepäck in den BMW. Ein letzter Blick wanderte die Dünen entlang. Wie sie dastand und der Wind ihr den Atem vom Mund riss, hatte sie eine glasklare Erinnerung an den zwanzigjährigen Michael, wie er in Cambridge mit einer fieberhaften Verwunderung zu ihr gesagt hatte: »Information ist vielleicht eine Substanz. Kannst du dir das vorstellen?«
    Sie lachte laut auf.
    »O Michael«, sagte sie.

 
29
     
Chirurgie
     
    Aus allen Teilen des Schiffs stoben die Schattenoperatoren zu Seria Maú. Sie verließen die finsteren Winkel unter der Decke des Menschenquartiers, wo sie in lockeren Konglomeraten wie Spinnenweben in den Falten eines alten Vorhangs gehangen und um Billy Anker und sein Mädchen getrauert hatten. Sie verließen die Bullaugen, wo sie auf ihren dünnen Fingerknöcheln herumgebissen hatten. Sie kamen aus den Softwarebrücken und Hypertextarchiven, der maltraitierten Hardware auf den intelligenten Platinen, auf denen sie gelegen hatten wie der Staub von zwei Wochen im Haus ihres Vaters. Sie hatten sich grundlegend gewandelt. Sie waren die reinsten Plaudertaschen, es knisterte und raschelte zwischen ihnen und immer wieder das silberhelle, farbige Flackern von Datensalven…
    Sie sagten: »Hat sie…?«
    Sie sagten: »Dürfen wir…?«
    Sie sagten: »Will sie wirklich mit ihm ausgehen?«
    Seria Maú beobachtete sie einen Moment lang, sie fühlte sich so konturlos wie der leere Raum. Dann befahl sie: »Verpasst mir das Cultivar, das ihr mir schon immer verpassen wolltet.«
    Die Schattenoperatoren trauten ihren Ohren nicht. Sie zogen das Cultivar in einem Tank auf, der dem von Seria Maú nicht unähnlich war, und zwar in einem Standardproteom namens Tailor’s Soup, individualisiert mit anorganischen Substraten, Code, der weder von Menschen noch von Maschinen stammte, einer Prise exotischer DNS und einem Quäntchen lebendiger Mathematik. Sie stellten das Cultivar trocken und musterten es kritisch. »Du wirst sehr hübsch aussehen, Liebes«, versprachen sie ihm, »du musst dir nur noch den Schlaf aus deinen blauen Augen reiben. Sehr hübsch, du wirst schon sehen.« Sie begleiteten es in den Raum, in dem Seria Maú die Dr.-Haends-Einheit aufbewahrte.
    »Da ist sie«, sagten sie. »Ist sie nicht allerliebst? Ist sie nicht entzückend?«
    »Klamotten hätten nicht sein müssen?«, sagte Seria Maú.
    »Oh, aber Liebes! Etwas muss sie doch anhaben.«
    Das Cultivar war sie selbst mit zwölf Jahren. Sie hatten seine blassen Hände mit Spiralen aus winzigen Staubperlen geschmückt und ihm ein bodenlanges Kleid aus polarweißem Satin angezogen mit applizierten Musselinranken und cremefarbenem Spitzenbesatz. Die Schleppe wurde an jeder Ecke von einem schwebenden Babybübchen getragen. Es starrte scheu nach oben, wo in den Ecken die Kameras hausten, und sagte leise: »Was man aufgegeben hat, kehrt zurück.«
    »Auch so was muss nicht sein«, sagte Seria

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