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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Papier in seinen Händen zu einem misslungenen Scherenschnitt zerfiel, dirigierte er das Taxi um, erwischte noch einen Zug und fuhr nach Hause. Niedergedrückt, erschöpft und mit einer unüberwindbaren Abneigung, die Reisetasche auszupacken, fiel ihm auf, dass er sich die Adresse unwillkürlich gemerkt hatte.
    Er versuchte zu arbeiten. Er saß da und teilte Karten aus, bis es dunkel war, dann – vielleicht in dem verzweifelten Versuch, sich die Trivialität all dessen zu vergegenwärtigen – zog er von Bar zu Bar, trank und hoffte, Inge Neumann zu begegnen, um sie lachen und sagen zu hören: »Es macht doch einfach nur Spaß.«
    Am nächsten Nachmittag stand er da, wo ihn der vermeintliche Brief hingeführt hatte. Es regnete. Das solide, drei- oder viergeschossige Vorstadthaus auf der anderen Straßenseite stand in einem Park, der halb versteckt hinter einer schönen, verwitterten Ziegelmauer lag.
    Er hatte keine Ahnung, warum er hier war.
    Er stand da, bis er völlig durchnässt war, und machte keine Anstalten wegzugehen. Kinder rannten straßauf, straßab. Um halb fünf nahm der Verkehr kurz zu. Als sich der Regen verzog und das Licht gen Westen wanderte, nahm die Ziegelmauer ein warmes Orange an und schien sich ein wenig zurückzuziehen, als sei die Straße breiter geworden; gleichzeitig schien sie sich zu strecken, höher und länger zu werden. Ein wenig später kam die Frau in dem Wollmantel angewatschelt, sie atmete schwer und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Sie überquerte die Straße, ging schnurstracks durch die Gartenmauer und war verschwunden.
    »Warten Sie!«, keuchte Kearney und stürzte ihr nach.
    Er hatte das Gefühl, etwas Membranartiges zu durchdringen, etwas, das sich wie eine zweite Haut über sein Gesicht legte. Dann hörte er jemanden sagen: »Sie entdeckten mit Verwunderung, dass sie seit eh und je in dem Garten waren, ohne es zu wissen.« Und war ab sofort überzeugt, dass Innen und Außen immer ein Einziges und Kontinuierliches waren. Er glaubte, überallhin zu können. Mit einem Jauchzer versuchte er sich gleichzeitig in jede erdenkliche Richtung zu bewegen; nur um zu seiner Bestürzung festzustellen, dass er sich bei der Umsetzung dieses Privilegs in die Tat für eine einzige Richtung entschieden hatte.
    Sonderbare Einrichtungsgegenstände verweilten in dem Haus, als seien die letzten Mieter noch nicht ganz ausgezogen. Es war kalt hier drinnen. Kearney ging von Zimmer zu Zimmer, besah sich hier einen altmodischen Kaminvorsatz aus Messing, dort ein hölzernes Bügelbrett, das zusammengeklappt in einer Ecke lehnte und sich wie ein totes Insekt ausnahm. Ihm war, als höre er leise Stimmen in den oberen Zimmern; ein Lachen, abgeschnitten durch ein vernehmliches Luftholen.
    Der Shrander erwartete ihn im so genannten Elternschlafzimmer. Kearney sah die Frau durch die offene Tür, sie stand am Erkerfenster. Licht umfloss ihre aufgedunsene, monolithische Silhouette und verklärte den nackten Boden des Zimmers, ergoss sich über Kearneys Füße und den Treppenabsatz und beleuchtete die Staubwülste unter der cremefarbenen Fußleiste. Zurechtgelegt auf einem Tischchen mit Intarsien geradewegs hinter der Türöffnung: Streichholzbriefchen, in Folien verschweißte Kondome, fächerförmig ausgebreitete Polaroidfotos und ein Paar übergroße Würfel mit Symbolen, die Kearney nicht erkennen konnte.
    »Du darfst reinkommen«, sagte der Shrander. »Nur zu.«
    »Was soll ich hier?«
    Im selben Augenblick flog draußen ein weißer Vogel an den drei Scheiben des Erkerfensters vorbei; der Shrander drehte sich um.
    Der Kopf der Frau war nicht mehr menschlich. (Wieso hatte er ihn je dafür gehalten? Wieso hatte ihn überhaupt jemand in der Warteschlange dafür gehalten?) Es war ein Pferdeschädel. Kein Pferdekopf. Ein mächtiger gebogener, knöcherner Schnabel, dessen Hälften sich nur an der Spitze treffen und der an alles erinnert, nur nicht an ein Pferd. Ein boshaftes, intelligentes, nichtsnutziges Ding, das nicht sprechen kann. Es hatte die Farbe von Tabak. Es hatte keinen Hals. Ein paar bunte Stofffetzen – kann sein, dass es früher mal rote, weiße und blaue Bänder voller Münzen und Medaillen gewesen waren – bildeten da, wo ein Hals hätte sein können, eine Art Cape. Dieses Ding kippte sich um die Längsachse und blickte Michael Kearney wie ein Vogel von schräg unten an. Man hörte es inwendig atmen. Der weibliche Körper darunter, eingeknöpft in den kastanienbraunen Wollmantel, der vor

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