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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Frieden.«
    Stattdessen berührte der Shrander seine Schulter. Er fühlte sich emporgehoben und bewegt, bis er über der Gischt hing. Er fühlte, wie seine Glieder mit fester Hand, aber nicht unsanft gestreckt wurden, als sei ein versierter Masseur am Werk. Er fühlte, wie er sich in der Luft drehte, flatternd wie eine Kompassnadel. »So herum?«, sagte der Shrander. »Nein, so herum.« Und: »Jetzt darfst du dir verzeihen.« Eine merkwürdige Empfindung – Eiseskälte, die zugleich warm war, wie bei der ersten Berührung mit einem Narkosespray – breitete sich auf seiner Haut aus, drang durch jede Pore und raste durch seinen Körper, öffnete jede Sackgasse, in die er sich in vierzig Jahren hineinmanövriert hatte, und lockerte den wunden, knotigen Klumpen aus Pein und Frustration und Ekel – unnütz wie eine zur Faust geballte Hand, aber ebenso eigenwillig und unverzichtbar –, lockerte diesen Klumpen, zu dem sein Ego geworden war, bis er nichts mehr wahrnahm als eine weiche, samtene Dunkelheit, in der er gedankenlos zu treiben schien. Nach einer Weile zeigten sich ein paar trübe Lichtfleckchen. Bald gab es mehr davon und immer noch mehr. Funken. Er dachte an Annas sexuelle Verzückung. In allem sind Funken! Sie wurden heller, sammelten sich über ihm und begannen zu kreisen, rascher und immer rascher, bis sie von den wilden schäumenden Mustern des fremden Attraktors absorbiert wurden. Kearney stürzte hinein, löste sich auf und verlor sich. Er war nichts. Er war alles. Er ruderte mit Armen und Beinen, wie ein Selbstmörder, der den dreizehnten Stock passiert.
    »Psch«, machte der Shrander. »Keine Angst mehr.« Er berührte Kearney und sagte. »Mach die Augen auf.«
    Kearney fror.
    »Mach die Augen auf!«
    Kearney schlug die Augen auf. »Zu hell«, sagte er. Alles war zu hell, um es erkennen zu können. Das Licht stürmte schrankenlos auf ihn ein: Er fühlte es, er hörte es. Es schüttete ihn regelrecht, hatte Substanz: flüssiges Licht. Majestätische Wände und Bögen und Blütenblätter aus purem Licht hingen da und flackerten, härteten aus, dauerten an, um im nächsten Moment zu schwanken und auf ihn herunterzustürzen, sie gingen einfach durch ihn hindurch und verschwanden, nur um anderen Platz zu machen. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Noch nie war er so überwältigt und entzückt gewesen.
    Er lachte.
    »Wo bin ich?«, sagte er. »Bin ich tot?«
    Das Vakuum ringsum roch nach Zitronen. Es sah aus, wie Rosen aussehen. Es zerrte an ihm, von innen und von außen.
    Da war ein Horizont, doch er schien zu krumm, zu nahe.
    »Wo ist das? Sind das Sterne? Gibt es das irgendwo?«
    Jetzt lachte auch der Shrander.
    »Überall ist es so wie hier«, sagte er. »Na, was sagst du?« Kearney sah nach unten und fand ihn an seiner Schulter stehen, ein kleines, dickes Ding in Frauengestalt, vielleicht einsfünfundsechzig groß, in den kastanienbraunen Wollwintermantel geknöpft, den gewaltigen knöchernen Schnabel gegen den tosenden und tobenden Himmel gekippt. Obgleich die Augenhöhlen leer waren, hatte Kearney das Gefühl, der Shrander blinzele. »Das ist das Einzige, was unsereins entgeht«, sagte der Shrander. »Wie entfaltbar das alles ist.« Bunte Bänder flatterten und wehten um seine Schulter, ohne dass ein Wind zu spüren war; der Saum des Mantels spielte mit dem Staub auf einer uralten, felsigen Oberfläche.
    »Wohin du blickst, es entfaltet sich ohne Ende. Wonach du suchst, du findest es. Und ihr Menschen könnt es haben. Alles.«
    Diese Großzügigkeit verwirrte Kearney, also beschloss er, sie zu ignorieren. Das Angebot ergab sowieso keinen Sinn.
    Dann, als er nach oben auf die kollabierenden und immer wieder nachwachsenden Türme aus Licht starrte, änderte er seine Meinung und überlegte, was er denn im Gegenzug zu bieten hatte. Woran er auch dachte, es schien unangemessen. Plötzlich fielen ihm die Würfel ein. Er hatte sie immer noch. Mit spitzen Fingern nahm er sie aus dem Ledersäckchen und hielt sie dem Shrander hin.
    »Ich weiß nicht, warum ich sie genommen habe«, sagte er.
    »Hab ich mich auch gefragt.«
    »Na ja, da sind sie jedenfalls.«
    »Das sind nur Würfel«, sagte der Shrander. »Menschen spielen ein Spiel damit«, setzte er vage hinzu. »Aber sie waren tatsächlich zu etwas nutze. Warum legst du sie nicht einfach hin?«
    Kearney sah sich um. Die Oberfläche, auf der sie standen, duckte sich rasch unter den Horizont, weißer Staub wie Puderzucker, zu hell für die Augen.
    »Auf den

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