Licht
Flecken starrte und nach Eintopf roch, dieser Körper hob in einer Besitz ergreifenden aber großzügigen Geste seine dick gepolsterten Arme.
»Schau hin«, befahl ihm der Shrander mit klarer, kindlicher Tenorstimme. »Schau nach draußen!«
Als Kearney tat, wie ihm geheißen, begann alles zu schlingern, und ringsumher war tiefe Finsternis, und er hatte das Gefühl, sich mit enormer Geschwindigkeit zu bewegen. Ein paar trübe Lichtfleckchen. Im nächsten Augenblick bildete sich ein chaotischer Attraktor, schäumend und brodelnd in den kitschigen, schillernden Farben der Computerkunst aus den Achtzigern. Christi Blut, das ins Firmament fließt, dachte Kearney. Er taumelte, ihm war übel, ihm war schwindlig, er suchte einen Halt: Doch er fiel bereits. Wo war er? Er hatte keine Ahnung.
»Hier findet die Wirklichkeit statt«, sagte der Shrander. »Glaubst du mir?« Mangels einer Antwort setzte er hinzu: »Das alles könntest du haben.«
Er zuckte die Achseln, als sei das Angebot doch nicht so attraktiv, wie er gedacht hatte. »Alles, wenn ihr nur wolltet. Ihr Menschen.« Er überlegte kurz. »Die Kunst ist natürlich, sich auch zurechtzufinden. Ich frage mich«, sagte er, »ob du weißt, wie nahe du davorstehst?«
Kearney stierte aufgewühlt aus dem Fenster.
» Was?«, sagte er. Er hatte kein Wort gehört.
Die Fraktale schäumten. Er wollte weglaufen. Wäre beinahe über das Intarsientischchen gefallen, packte es, fand sein Gleichgewicht zurück, merkte, dass er die Würfel des Shranders genommen hatte. Seine Panik füllte das Zimmer, so dickflüssig, dass er gezwungen war, kehrtzumachen und durch die offene Tür zu schwimmen. Seine Arme bewegten sich wie beim Brustschwimmen, derweil die Beine unter ihm laufen wollten, es aber nur zu nutzlosen Schritten in Zeitlupe brachten. Er stolperte auf den Treppenabsatz hinaus, strauchelte die Treppe hinunter – voller Entsetzen und Ekstase, die Würfel in der Hand…
Er hatte sie wieder in der Hand, jetzt, da er sich oben auf den Dünen des Monster Beach durch Sand und Helmgras kämpfte. Wenn er zurückblickte, sah er das Strandhaus, hinter den Fenstern das Kommen und Gehen eines milchigen Widerscheins. Der Himmel war schwarz und übersät mit strahlenden Sternen; der Ozean, versilbert in den Armen der Bucht, legte immerzu den Finger an die Lippen, bevor er sich an den Strand warf. Kearney, der von Natur aus kein Athlet war, schaffte vielleicht eine Meile, ehe der Shrander ihn eingeholt hatte. Diesmal war der Shrander viel größer als er, obwohl seine Stimme auch jetzt wieder den hohen Tenor eines Jungen oder einer Nonne hatte.
»Kennst du mich denn nicht?«, fragte der Shrander von oben herab. Er war so groß, dass er die Sterne verdeckte. Er roch nach altem Brot und nasser Wolle. »In deinen Träumen habe ich oft genug mit dir geredet. Jetzt darfst du das Kind sein, das du warst.«
Kearney fiel auf die Knie, schob das Gesicht in den nassen Strand und gewahrte mit gläserner Klarheit und gänzlich unerwartet nicht bloß die einzelnen Sandkörner, sondern auch die Formen dazwischen. Sie zeichneten sich so deutlich und filigran ab, dass er sich tatsächlich wieder wie ein Kind fühlte. Das Gefühl verflog. Er weinte, weinte, weil er sich selbst verloren hatte. Ich habe nicht gelebt, dachte er. Und was habe ich stattdessen getan? Das. Er hatte Dutzende von Menschen getötet. Er hatte sich mit einem Verrückten verbündet, um Schreckliches zu tun. Er hatte keine Kinder. Anna hatte er nie verstanden. Er stöhnte, nicht bloß aus Selbstmitleid, sondern auch, weil es ihn solche Anstrengung kostete, den Blick seines Rachegottes zu meiden; das Gesicht fest in den Sand gedrückt und den linken Arm steif nach hinten gekrümmt, bot er ihm das Beutelchen mit den gestohlenen Würfeln an.
»Warum ich? Warum ich?«
Der Shrander schien verwirrt.
»Du warst mir irgendwie sympathisch«, erklärte er. »Auf Anhieb.«
»Du hast mein Leben ruiniert«, flüsterte Kearney.
»Du hast dein Leben selbst ruiniert«, sagte der Shrander mit einem Anflug von Stolz.
Dann sagte er: »Nur interessehalber, warum hast du die vielen Frauen ermordet?«
»Um dich von mir fern zu halten.«
Der Shrander schien überrascht.
»Du liebe Zeit. Und du hast nicht gemerkt, dass es nicht funktioniert?« Dann sagte er: »Ein richtiges Leben war das ja nicht gerade. Und warum bist du so gerannt? Ich wollte dir nur etwas zeigen.«
»Nimm die Würfel«, bettelte Kearney, »und lass mich in
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