Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
Ereignisse im Kielwasser des Shranders angenommen hatten, gerade als werfe diese Entität ein besonderes, aus ihr selbst kommendes Licht auf die Dinge. Doch zu der Zeit betrachtete Kearney sich noch als Anfänger oder Suchender. Er hoffte noch immer, etwas Positives zu erreichen. Er wollte noch immer seinen Rückzug vom Shrander von einer Gegenkraft begleitet wissen – einer Bewegung hin zu ihm –, von der trotzdem so etwas wie eine transformierende Begegnung ausgehen konnte. Doch in Wahrheit hatte er bis zu seiner Begegnung mit Sprake die Würfel entscheiden lassen und zufallsbestimmte Reisen unternommen und war nirgends angekommen und das ging nun schon seit Ewigkeiten so. Er spürte einen kurzen Schwindel (der womöglich daher rührte, dass der Zug anzog und weiterfuhr nach Hampstead South, langsam zuerst dann schneller und schneller) und langte, weil er zu fallen glaubte, Halt suchend nach Sprakes Schulter.
    »Woher wissen Sie das?«, sagte er. Die eigene Stimme klang heiser und bedrohlich für ihn. Sie hörte sich an wie etwas, das lange nicht benutzt worden war.
    Sprake beäugte ihn, dann kicherte er in die Runde der Wirtschaftsprüfer.
    »Ein Schubs«, sagte er, »ist so gut wie ein Augenzwinkern. Für ein blindes Pferd.«
    Er war absichtlich fortgerückt, als Kearney Halt suchte. Kearney fiel halb in die Frau, die sich hinter ihrem Daily Telegraph versteckte, kam mit einer Entschuldigung wieder auf die Füße und begriff im selben Augenblick, wie gut sich der Körper auf Metaphern verstand. Schwindel. Er war auf der Flucht. Davon war ein für alle Mal nichts Gutes zu erwarten. Seit ihm die Würfel in die Hände gefallen waren, befand er sich im freien Fall. Er stieg zusammen mit Sprake aus, und sie durchquerten die lärmende, gewienerte Bahnhofshalle und traten zusammen auf die Euston Road hinaus.
     
    In den folgenden Jahren entwickelten sie ihre Theorie über den Shrander, die gleichwohl kein Element einer Erklärung enthielt und so gut wie nie artikuliert wurde, außer durch ihre Aktionen. Eines Samstagnachmittags in einem Zug nach Leeds hatten sie in dem zugigen Bereich zwischen zwei Waggons eine alte Frau ermordet und ihr, bevor sie sie in die Toilettenkabine stopften, mit einem roten Gelstift in die Achselhöhle geschrieben: Send me an eon heart / Seek it inside (*Nach Auskunft des Autors ein Zitat aus seinem Gedicht in seiner Kurzgeschichte The Gift.) Es war ihre erste gemeinsame Leistung. Später dann, in einer ironischen Verkehrung der üblichen Zielrichtung, liebäugelten sie mit Brandstiftung und dem Töten von Tieren. Zunächst erfuhr Kearney eine gewisse Erleichterung, wenn auch nur durch die damit verbundene Kameraderie oder Verschworenheit. Sein Gesicht, das inzwischen so eingefallen war wie das eines Toten, entspannte sich. Er verwandte mehr Zeit auf seine Arbeit.
    Doch am Ende zeigte sich, dass Verschworenheit bereits alles war, worum es dabei ging. Trotz dieser Goodwillbekundungen blieb seine Lage unverändert: Der Shrander war nicht abzuschütteln. Inzwischen beanspruchte Sprake mehr und mehr von seiner Zeit. Seine Karriere lahmte. Seine Ehe mit Anna scheiterte. Mit dreißig war er sklerös vor lauter Sorge.
    Wenn er nachließ, machte Sprake ihm Dampf.
    »Du glaubst immer noch, es ist nicht real«, konnte er plötzlich auf seine nachsichtige, anzügliche Tour sagen. »Hab ich Recht?«
    Dann: »Nun komm schon, Mick. Mickey. Michael. Mir kannst du es doch sagen.«
    Valentine Sprake war bereits in den Vierzigern und lebte noch zu Hause. Seine Familie betrieb in Nord-London einen Second-Hand-Laden für Bekleidung. Da war eine alte Frau mit einem leichten mitteleuropäischen Akzent, die ihre Zeit damit verbrachte, in einer kraftlosen Trance zu jenem sonderbar verrenkten Exemplar religiöser Wandkunst hochzublicken. Sprakes Bruder, ein Junge von ungefähr vierzehn, saß tagaus, tagein hinter der Ladentheke und kaute etwas, das nach Anis roch. Alice Sprake, die Schwester, mit ihren schweren Gliedern und ihrem leeren, begriffsstutzigen Lächeln, ihrem olivgrünen Teint und dem dunklen Flaum unter der Nase betrachtete Kearney aus großen braunen Augen. Wann immer kein Dritter zugegen war, setzte sie sich neben ihn und legte ihm die feuchte Hand zärtlich auf den Penis. Er bekam augenblicklich eine Erektion, und sie entblößte ihre schlechten Zähne zu einem besitzergreifenden Lächeln. Nie sah das jemand, doch egal wie beschränkt die Familie sonst war, besaßen die Sprakes allesamt eine

Weitere Kostenlose Bücher