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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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anzuhäufen war eine von Annas Strategien, sich gegen ihre Gedanken abzuschotten. Um es gleich zu sagen, die Wohnung war wie ein Schlauch geplant: fast jedes Zimmer mit anderen Abmessungen und nur über die anderen zu erreichen. Man wusste nie, wo man gerade war. Tageslicht gab es nur wenig. Sie hatte das wenige noch gedämpft, indem sie die Wände toskanisch gelb gestrichen und dann mit einer Spezialrolle in blassem Terrakotta marmoriert hatte. Küche und Klo waren winzig und die Wände des Letzteren mit blau-goldenen Fischen bemalt. Überall gab es Masken, Wimpel, chinesische Lampenschirme, staubige Vorhangstücke, abgesplitterte Glaskandelaber und riesige getrocknete Früchte aus Ländern, die sie nie besucht hatte. Ihre Bücher quollen förmlich aus den gebogenen Weichholzregalen über den melassefarbenen Boden.
    Kearney hatte vorgehabt, auf dem Futon im Hinterzimmer zu schlafen, doch sobald er dalag, bekam er Herzrasen und wurde von unerfindlichen Ängsten gequält. Nach zwei Nächten flüchtete er sich in Annas Bett. Das war vielleicht ein Fehler.
    »Es ist, als wären wir wieder verheiratet«, sagte Anna, als sie eines Morgens aufwachte und ihn mit einem peinlich strahlenden Lächeln beglückte.
    Als Kearney aus dem Bad kam, hatte sie verlorene Eier mit altbackenem Toast gemacht; auch die Croissants waren altbacken. Es war neun Uhr morgens, und der Tisch war hübsch mit Platzdeckchen und brennenden Kerzen gedeckt. Im Großen und Ganzen schien es ihr aber besser zu gehen. Im Waterman’s Arts Centre belegte sie einen Yogakurs. Sie hörte auf, sich Zettel zu schreiben, obwohl sie die alten an der Rückseite der Schlafzimmertür hängen ließ, wo sie Kearney mit vergessenen emotionalen Pflichten konfrontierten. Jemand liebt Dich. Jede Nacht starrte er lange in das Streiflicht an der Zimmerdecke und lauschte dem murmelnden Verkehr auf der Chiswick Bridge. Sobald er sich eingewöhnt hatte, fuhr er nach Fitzrovia, um mit Tate zu reden.
     
    Es war ein nasskalter Montagnachmittag. Der Regen hatte die Straßen östlich der Tottenham Court Road geleert.
    In die Forschungssuite – ein Nebengebäude des Imperial College, das man vor kurzem der freien Marktwirtschaft überantwortet hatte – gelangte man durch einen tristen, aber sauberen Kellervorhof mit mattiertem Namensschild und frisch aufgearbeiteten schwarzen Eisengittern. Ein paar Straßen weiter östlich hätte das gleiche Gebäude eine Literatur-Agentur beherbergt. Die Ventilatoren waren offen und laut und hinter den Mattglasscheiben war Bewegung. Die Geräusche eines Radios sickerten nach draußen. Kearney ging die Steintreppe hinunter und tippte auf dem Keypad neben der Tür seinen Zugangscode ein. Als das nichts half, drückte er den Knopf der Sprechanlage und wartete. Die Sprechanlage knisterte, aber niemand meldete sich und niemand betätigte den Türöffner.
    Ein paar Atemzüge später rief er: »Brian?«
    Er drückte wieder den Summer, hielt den Knopf mit dem Daumen gedrückt. Keine Antwort. Er stieg auf Straßenniveau zurück und spähte durch die Gitter. Diesmal war keine Bewegung zu sehen, und zu hören waren nur noch die Ventilatoren.
    »Brian?«
    Schließlich sagte er sich, dass alles nur Einbildung gewesen war. In dem Labor war niemand. Kearney schlug den Kragen der Lederjacke hoch und marschierte in Richtung Centre Point. Er war noch nicht am Ende der Straße, als ihm der Gedanke kam, Tate zu Hause anzurufen. Tates Frau meldete sich. »Ganz recht, nicht hier«, sagte sie. »Und ich sage das nicht ungern. Er ist fort, als wir noch schliefen.« Sie überlegte einen Augenblick lang, ehe sie trocken hinzusetzte: »Falls er überhaupt nach Hause gekommen ist letzte Nacht. Wenn Sie ihn sehen, richten Sie ihm aus, dass ich die Kinder wieder nach Baltimore bringe. Und das ist keine leere Drohung.« Kearney starrte auf das Handy und versuchte sich an ihren Namen oder ihr Aussehen zu erinnern. »Na ja«, sagte sie, »das ist mir jetzt so rausgerutscht.« Als er nicht antwortete, sagte sie mit scharfer Stimme: »Michael?«
    Kearney war sich einigermaßen sicher, dass sie Elisabeth hieß, aber Beth genannt wurde. »Tut mir Leid«, sagte er. »Beth.«
    »Siehst du?«, sagte Tates Frau. »Ihr seid alle gleich. Warum schlägst du nicht so lange an die verdammte Tür, bis er aufwacht?« Dann sagte sie: »Meinst du, er hatte ’ne Frau bei sich. Da wär ich nämlich froh. Das würde ihn so menschlich machen.«
    Kearney sagte: »Hör zu, bleib am Apparat,

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