Licht

begann heftig zu zittern. Dann wieder schien sie sich zu entspannen. Ein, zweimal lachte sie in sich hinein und sagte: »He, Mann.« Sie war so mit dem Sterben beschäftigt, wie sie es mit dem Leben gewesen war, mit derselben Ausschließlichkeit. Ed kniete sich zu ihr. Ihm war, als kniee er neben einem zusammengebrochenen Pferd.
    »Halte durch«, sagte er. »Nicht sterben. Du kannst es schaffen.«
    Sie lachte gequält.
    »Du kennst dich aus, was?«, ächzte sie.
    Er spürte, wie ihr die Wärme abhanden kam. Er hatte das Gefühl, sie würde ihr aus allen Poren entfliehen und nie wieder ersetzt werden. Um das zu verhindern, wollte er das Mädchen in die Arme nehmen. Doch sie war einfach zu groß, sodass er sich mit ihrer Hand zufrieden gab.
    »Wie heißt du?«, fragte er.
    »Warum?«
    »Wenn du mir sagst, wie du heißt, kannst du nicht sterben«, erklärte Ed. »Das wär ein bisschen so, als hätten wir was miteinander. Dann würdest du mir was schuldig sein und so weiter, du weißt schon.« Er überlegte. »Für mich ist es wichtig, dass du nicht stirbst«, sagte er.
    »Mist«, sagte sie. »Andere scheiden in Frieden dahin. Und mir kommt ein Twink in die Quere.«
    Ed war bass erstaunt.
    »Woher weißt du?«, sagte er. »Das kannst du unmöglich wissen.«
    Sie holte rasselnd Luft.
    »Sieh dich an«, verriet sie ihm. »Du bist so tot wie ich, inwendig, verstehst du?« Sie verengte ihre Augen. »Du bist von oben bis unten voll Blut, Mann«, erklärte sie ihm. »Ganz voll Blut. An mir klebt wenigstens kein Blut.« Das schien sie irgendwie aufzumuntern. Sie nickte und lehnte sich zurück.
    »Ich heiße Annie Glyph«, sagte sie. »Noch.«
    »Visit Today!«, dröhnte urplötzlich der Rikschareklamechip. »Sandra Shen’s Observatorium and Native Karma Plant, Incorporating the Circus of Pathet Lao. Also: the future descried. Prophecy. Fortune Telling. Atheromancy. « (* »Wir freuen uns auf Ihren Besuch! – Sandra Shens Observatorium und die Original-Karma-Pflanze: der Zirkus von Pathet Lao. Ein Blick in die Zukunft: Weissagen – Wahrsagen – Ätherlesen.«)
    »Fünf Jahre hab ich diese Stadt beackert, mit Café électrique und ganz auf mich gestellt«, sagte Annie Glyph. »Das sind zwei Jahre länger als die meisten.«
    »Was ist Atheromancy?«, fragte Ed.
    »Weiß der Himmel.«
    Er starrte auf die Rikscha. Primitive Speichenräder und orangeroter Kunststoff, ganz Pierpoint Street. Die Rikschagirls trabten achtzehn Stunden täglich, um sich das Speed leisten zu können. Und das Opium, um dem Speed die Spitze zu nehmen. Dann waren sie ausgebrannt. Café électrique und Power, das war ihr ganzer Stolz. Was ihnen blieb, war ein Mythos. Sie waren nicht kaputtzukriegen – und das machte sie kaputt. Ed schüttelte den Kopf.
    »Wie kannst du damit leben?«, sagte er.
    Doch genau das tat Annie Glyph nicht mehr. Ihre Augen waren ausdruckslos, und sie war zur Seite gekippt, und mit ihr die Rikscha. Es wollte ihm nicht in den Kopf, dass etwas so Lebendiges wie Annie sterben konnte. Ihr mächtiger Leib glänzte noch vor Schweiß. Das grobknochige Gesicht, zu klein im Verhältnis zu Nacken- und Schultermuskulatur, vermännlicht durch das inwendig getragene Testosteronpflaster, das nach Aussage des Schneiders zu einem billigen Geschlechtsumwandlungsset gehörte, – dieses Gesicht war trotz allem gut geschnitten, irgendwie schön sogar. Ed betrachtete es ein, zwei Atemzüge lang, dann lehnte er sich vor, um ihr die Augen zu schließen. »He, Annie«, sagte er. »Schlaf jetzt…« Er hatte das letzte Wort noch nicht ganz aus dem Mund, als etwas Unheimliches geschah. Ihre Backenknochen kräuselten sich und ruckelten hin und her. Er führte das auf den unruhigen Widerschein der Rikschawerbung zurück. Doch dann verschwamm ihr ganzer Kopf und schien sich in lauter Lichter aufzulösen.
    »Scheiße«, sagte Ed, sprang auf die Füße und fiel hintenüber.
    Es dauerte eine Minute, vielleicht auch zwei. Die Lichter schienen in die sanft glühende Region zu flattern, wo sich die Rikschareklame wie durch Zauberhand aus der Luft rekrutierte. Dann strömten Lichter und Werbung in Annies Gesicht zurück, das sie aufsaugte wie ein trockener Schwamm die Tränen. Ihr linkes Bein zog an, um sich gleich darauf galvanisch zu strecken. »Zum Teufel«, sagte sie. Sie räusperte sich und spuckte aus. Indem sie sich mit Füßen und Händen in den Morast stemmte, konnte sie sich und die Rikscha wieder aufrichten. Sie schüttelte sich und starrte auf Ed