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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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ein unfreundlicher Betonstreifen durch Salzsumpf und Sanddünen auf eine Überkrustung mit schäbigen, vom Meer ausgelaugten hölzernen Hotels und Bars hinaus.
    »Wo sind wir?«, sagte er. »Scheiße.«
    »Nennt der Kunde kein Ziel, bring ich ihn nach hier«, erklärte Annie Glyph. »Gefällt es dir hier nicht? Der Zirkus gibt mir Prozente. Da drüben. Siehst du?« Sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine Ansammlung von Lichtern und bedachte ihn, als er keine Miene verzog, mit einem bangen Blick. »So übel ist das nicht«, sagte sie. »Hier gibt es Hotels und auch Stoff. Das ist der freie Raumhafen.«
    Ed starrte über den Zaun.
    »Scheiße«, sagte er wieder.
    »Ich krieg Provision, wenn ich Kundschaft bringe«, sagte Annie. »Wenn du willst, kann ich dich reinbringen.« Sie hob die breiten Schultern. »Oder ich bring dich woanders hin. Aber das kostet.«
    »Ich gehe zu Fuß«, sagte Ed. »Kein Geld.«
    »Kein Geld?«
    Er zuckte die Achseln. »Auch sonst nichts«, sagte er.
    Sie starrte ihn mit einem Ausdruck an, den er nicht deuten konnte.
    »Ich hab da draußen im Sterben gelegen«, sagte sie. »Und du hast dir Zeit genommen für mich. Also fahr ich dich in die Stadt zurück.«
    »Mit dem Unterschied«, sagte Ed, »dass ich auch keine Bleibe habe. Kein Geld. Keine Bleibe. Keine Daseinsberechtigung.« Sie gab sich sichtlich Mühe, das Gehörte zu verarbeiten. Während sie ihn ansah, machten ihre Lippen winzige Bewegungen. Mit einem Mal begriff er, dass sie ein gutes Herz hatte, und das machte ihm Sorge. Das bedrückte ihn. »He«, sagte er. »Na und? Du bist mir nichts schuldig, ich hab die Fahrt genossen.« Er maß ihren mächtigen Körper vom Scheitel bis zur Sohle. »Und du bist topfit.«
    Verdutzt starrte sie ihn an; dann an sich hinunter; und dann über den Maschendrahtzaun und das windgerüttelte Gatter zu den Lichtern am Ufer hinüber. »Ich hab ein Zimmer da drüben«, sagte sie. »Ich bringe Kundschaft und die lassen mich da wohnen. Das ist ausgemachte Sache. Kommst du mit?«
    Das Gatter klapperte, die Seeluft kühlte ein wenig ab. Ed dachte an Tig und Neena. Was wohl aus ihnen geworden war?
    »Okay«, sagte er.
    »Du könntest dich gleich heute nach einem Job erkundigen.«
    »Ich wollte schon immer in einem Zirkus arbeiten.«
    Während sie das Gatter öffnete, sah sie ihn von der Seite an.
    »Kinderträume«, sagte sie nur.
     
    Das Zimmer war kaum größer als Annie. Die billigen Holzfaserwände knarrten und gaben dem Wind nach, der vom Meer herüberblies. Sie waren gebrochen weiß und boten einem wackligen Regal Halt. Die durchscheinende Plastikkabine in der einen Ecke beherbergte Toilette und Dusche. In der anderen Ecke gab es einen Induktionsherd mit ein paar Töpfen und Pfannen. Am Fuß der Wand lag ein aufgerollter Futon. Das Kabuff war so wohnlich, wie man es empfand, und roch nach in Öl geschmortem Reis und Schweiß. Café-électrique- Schweiß.Rikschagirl-Schweiß. Im Regal lagen ein paar persönliche Sachen, was die wenigsten ihrer Profession von sich behaupten konnten: zwei Lycra-Anzüge zum Wechseln, drei alte Bücher und ein paar Seidenpapierblumen.
    »Hübsch«, sagte Ed.
    »Warum lügen«, sagte sie. »Die Bude ist Scheiße.« Sie zeigte auf den Futon. »Ich könnte uns was zu essen machen«, sagte sie, »oder willst du dich lieber gleich hinlegen?«
    Ed musste wohl kein so glückliches Gesicht gemacht haben.
    »He«, sagte sie. »Ich bin sanft. Verletzt hab ich noch keinen.«
    Sie hatte Recht. Sie nahm ihn behutsam in die Arme. Ihre olivfarbene Haut mit dem zarten Flaum verströmte einen seltsamen strengen Geruch wie von Gewürznelken und Eis. Sie berührte ihn zärtlich, schützte ihn vor den Krämpfen, als sie irgendwo tief innen kam, und ermutigte ihn so hart zuzustoßen, wie er wollte. Als er in der Nacht wach wurde, stellte er fest, dass sie sich so umständlich um ihn herumdrapiert hatte, als sei sie keinen Zweiten auf ihrem Futon gewöhnt. Draußen war Flut. Ed lag da und lauschte den Steinen, die in der Widersee kullerten. Der Wind fauchte. Die bläuliche Dämmerung kündigte sich an. Er spürte, wie der Zirkus ringsum zu erwachen begann, ahnte allerdings noch nicht, was das für ihn bedeutete. Annie Glyphs friedlicher Tablettenatem, das Auf und Ab ihres mächtigen Brustkorbs, ließen ihn rasch wieder einschlafen.
     
    Wer brauchte heutzutage einen Zirkus? Der Halo war ein einziger Zirkus. Auf den Straßen herrschte Zirkus. In den Köpfen war Zirkus. Feuerschlucken? Alle waren

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