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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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hinunter. Von ihrem Kreuz stieg Dunst in die kalte Nacht. »So was ist mir noch nie passiert.«
    »Du warst tot«, flüsterte Ed.
    Sie zuckte die Achseln. »Zu viel Speed. Dagegen hilft nur eins: noch mehr Speed. Willst du irgendwohin?«
    Ed stand auf und ging rückwärts.
    »Nein danke.«
    »He, nun kletter schon rein, Mann. Du hast dir eine Fahrt verdient.« Sie blickte zu den Sternen empor, dann sah sie sich auf dem Müllplatz um, als sei sie sich nicht sicher, wie sie hierher gekommen war. »Ich bin dir was schuldig. Aber frag mich nicht.«
     
    Es sollte die verrückteste Fahrt werden, die Ed je erlebt hatte.
    2.30 Uhr in der Früh: Die Straßen lagen verlassen, die Stille wurde nur durch das leise gleichmäßige Geräusch von Annies Füßen durchbrochen. Die Gabel tanzte auf und ab, aber die Rikscha besaß einen Chip, der die Schaukelbewegungen dämpfte. Für Ed war es wie Gleiten und Sich-nicht-Bewegen in einem. Alles, was er von dem Rikschagirl sah, waren die gewaltigen großen Rückenmuskeln und Hinterbacken (wobei der stahlblaue Lycra-Anzug wie eine einzige, lückenlose Tätowierung wirkte). Ihr Gang war ein Energie sparender Schleifschritt. Sie war gemacht, um bis in alle Ewigkeit zu laufen. Hin und wieder schüttelte sie den Kopf und ein Aerosol aus Schweiß flog in die schummrige, unstete Korona der Werbespots. Annies Hitze hüllte ihn ein und isolierte ihn gegen die Nacht. Auch gegen alles andere fühlte er sich isoliert; Annies Passagier zu sein, schien es ihm zu erlauben, sich aus der Welt zurückzuziehen: sich von ihren Rätseln zu erholen.
    Sie lachte, als sie das zu hören bekam.
    »Twinks!«, sagte sie. »Euch erholen ist alles, was ihr Wichser könnt.«
    »Ich hab früher mal ein Leben geführt.«
    »Das sagen sie alle«, meinte Annie. »He«, fuhr sie fort, »schon mal gehört, dass man mit ’nem Rikschagirl nicht reden soll? Ich brauch meine Puste für was anderes.«
    Die Nacht glitt vorüber, das Bekleidungsviertel mündete erst in den Union Square, dann in den East Garden. Überall EMC-Propaganda. »War!«, verkündeten die Hologrammtafeln. »Are you ready?« Annie wählte kurz entschlossen die Pierpoint stadtwärts, die so verlassen lag als habe der Krieg schon stattgefunden. Alle Tanksalons und Chopshops waren geschlossen. Hier und da eine verwaiste Bar, in der ein Verlierer Rosenwhiskey trank und über den Unterschied zwischen Leben und dem, was danach aussah, grübelte, derweil ein Cultivar in Schürze den Tresen mit seinem schmutzigen Lappen wischte. Das taten die Verlierer bis zum Morgengrauen, um dann ohne Antwort heimzugehen.
    »Was hast du denn in deinem anderen Leben so gemacht?«, fragte Annie plötzlich. »In deinem ›Ich-war-nicht-immer-ein-Twink‹-Leben?«
    Ed zuckte die Achseln.
    »Eins hab ich bestimmt gemacht«, fing er an. »Tauchschiffe geflogen…«
    »Das sagen sie alle.«
    »He«, sagte Ed. »Unterhalten verboten.«
    Annie lachte vor sich hin. Sie bog links ab in die Impreza und dann noch einmal links Ecke Impreza und Skyline. Jetzt trabte sie gegen einen Kilometer Steigung an, ohne dass sich ihre Atmung merklich veränderte. Hügel, sagte ihre Körpersprache, waren die kleinen Wechseljahre eines Rikschagirls.
    Nach einer Weile sagte Ed: »Da fällt mir ein, ich hatte eine Katze. Aber da war ich noch klein.«
    »Ach ja? Und sie hatte welche Farbe?«
    »Schwarz«, sagte Ed. »Es war eine schwarze Katze.«
    Er sah sie noch vor sich, wie sie in der Diele mit einer bunten Feder spielte. Egal, was man ihr gab – Papier, Feder, einen bemalten Korken –, die nächsten zwanzig Minuten war sie mit Leib und Seele bei der Sache, dann verlor sie schlagartig jedes Interesse und schlief ein. Sie war schwarz und mager, mit nervösen, geschmeidigen Bewegungen, einem spitzen kleinen Gesicht und gelben Augen. Sie war immer hungrig gewesen. Ed hatte sie deutlich vor Augen, aber sein Elternhaus, das war ihm abhanden gekommen, wie ausgelöscht. Stattdessen hatte er eine Menge Tankerinnerungen, die, wie er wusste, nicht real waren, weil sie so blitzblank und vollkommen waren, so perfekt ineinander griffen. »War da nicht noch eine Katze?«, sagte er. »Eine Schwester.« Doch nach einigem Nachdenken verwarf er diese Vermutung.
    »Wir sind da«, sagte Annie plötzlich.
    Die Rikscha hielt mit einem Ruck an. Ed, aus seinem unsichtbaren Kokon in die Welt geschleudert, sah sich ratlos um. Zäune und Gatter, die von Kondenswasser troffen und an denen ein anlandiger Wind rüttelte. Dahinter lief

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