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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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nicht deine Probleme. Oder: Du bist nicht verantwortlich für die Probleme anderer.
    Kearney ging leise ins Hinterzimmer, machte kein Licht und fing an die Kommode zu leeren, stopfte Kleidung, Bücher, Spielkarten und persönliche Dinge in die Marin-Kuriertasche. Das Zimmerfenster ging in den zentralen Schacht des Wohnblocks. Es dauerte nicht lange und Kearney hörte den Widerhall von Stimmen aus einer der unteren Etagen. Es hörte sich an, als ob ein Mann und eine Frau stritten, zu verstehen war nichts, zu spüren waren Verlust und Gefahr. Er stand auf und zog die Vorhänge zu. Die Stimmen sickerten immer noch ins Zimmer. Als er hatte, was er brauchte, wollte er die Tasche schließen. Der Reißverschluss hakte. Kearney blickte nach unten. Die Tasche samt Inhalt war von einer dicken, weichen, gleichmäßigen Staubschicht bedeckt. Diese Metapher seines Lebens, das ihm durch die Finger rann, erfüllte ihn erneut mit Entsetzen. Im anderen Zimmer wachte Anna auf.
    »Michael?«, sagte sie. »Bist du das? Du bist das, Michael, ja?«
    »Schlaf weiter«, riet ihr Kearney. »Ich hol mir nur ein paar Sachen.«
    Sie brauchte eine Minute, um das zu verarbeiten. Dann sagte sie: »Ich mach dir einen Tee. Ich wollte eben schon Tee machen, bin aber eingeschlafen. Ich war so fertig, dass ich einfach eingeschlafen bin.«
    »Das ist wirklich nicht nötig«, sagte er.
    Er hörte das Bett knarren, als sie aufstand. Sie kam und lehnte sich in ihrem langen Baumwollnachthemd in den Türrahmen, gähnte und rieb sich das Gesicht. »Was machst du?«, sagte sie. Sie musste das Erbrochene auf seiner Jacke riechen, denn sie sagte: »War dir nicht gut?« Sie machte plötzlich Licht. Kearney machte eine resignierende Geste mit der Tasche in der Hand. Sie standen da und blinzelten einander an.
    »Du gehst?«
    »Anna«, sagte Kearney. »Es ist besser so.«
    »Wie, zum Teufel, kannst du so was sagen!«, schrie sie. »Wie, zum Teufel, kannst du sagen: Das ist besser so?«
    Kearney wollte etwas sagen, dann zuckte er die Achseln.
    »Ich dachte, du willst bleiben! Gestern hast du noch gesagt, dass es gut war; du hast gesagt, es war gut.«
    »Wir haben gevögelt, Anna. Davon war die Rede.«
    »Ich weiß. Ich weiß. Es war gut.«
    »Dich zu vögeln, war gut«, sagte er. »Mehr hab ich nicht gemeint.«
    Sie rutschte am Türrahmen hinunter, bis sie mit angezogenen Knien dasaß.
    »Du hast so getan, als wolltest du bleiben.«
    »Das hast du dir nur eingebildet«, versuchte Kearney ihr einzureden.
    Sie starrte zornig zu ihm auf. »Und ob du bleiben wolltest!«, beharrte sie. »Du hast es mir praktisch gesagt.« Sie schniefte, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Na schön«, sagte sie. »Männer sind immer so dumm und feige.« Sie schauderte plötzlich. »Ist es kalt hier? Jetzt bin ich einmal wach. Trink wenigstens noch einen Tee. Ich brauche keine Minute.«
    Es dauerte länger. Anna kramte herum. Sie fragte sich, ob sie noch genügend Milch hatte. Sie fing an zu spülen, dann hörte sie auf damit. Sie überließ es Kearney, den Tee aufzugießen, derweil sie im Bad die Wasserhähne auf- und zudrehte. Danach hörte er sie irgendwo in der Wohnung rumoren. Schubladen wurden auf- und zugemacht. »Neulich hab ich Tim getroffen«, rief sie. Das war so durchsichtig, dass Kearney es ignorierte. »Er hat sich an dich erinnert.« Kearney stand in der Küche und starrte auf die Sachen im Regal und trank von dem dünnen Earl Grey, den er aufgegossen hatte. Er ließ die Kuriertasche nicht aus der Hand; sie abzusetzen hätte seine Position unweigerlich geschwächt. Ab und zu begann sich tief in seinem Stammhirn eine Welle der Angst aufzubauen, als nehme ein sehr alter Teil von ihm den Shrander viel eher wahr, als es Ohren und Augen taten.
    »Ich muss gehen«, sagte er laut vernehmlich. »Anna?«
    Er ging zur Spüle und kippte seine Tasse aus. Als er die Tür erreichte, war Anna schon da und versperrte ihm den Weg. Sie war fix und fertig angezogen mit einer langen Zopfmusterstrickjacke und einem unechten Versace-Rock, zu ihren Füßen stand eine Reisetasche. Sie sah seinen Blick. »Was du kannst, kann ich auch«, sagte sie. Kearney zuckte die Achseln und griff über ihre Schulter hinweg nach dem Knauf des Yale-Schlosses.
    »Warum vertraust du mir nicht?«, sagte sie, als sei bewiesen, dass er es nicht tat.
    »Darum geht es überhaupt nicht.«
    »O ja, darum geht es. Ich will dir helfen…«
    Er machte eine ungeduldige Geste.
    »… aber du sperrst

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