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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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»Er hat mich irgendwie verstoßen«, sagte sie und sah, als sei es gestern passiert, mit einem leisen, dämmernden Verwundern zu Kearney auf. »Kannst du mir sagen, warum jemand so etwas tut?« Sie hatte zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihre Kommilitonen, wie Studenten so sind, waren beinah stolz darauf; sie kümmerten sich um Anna. Kearney, wurden sie nicht müde anzudeuten, trage auch Verantwortung für sie. Anna selbst schien nur peinlich berührt, vergaß man sie aber für eine Minute, begann sie zu schwächein. »Ich glaube, ich esse nicht viel«, hörte man sie hilflos am Telefon sagen. Sie verhielt sich wie jemand, dessen Persönlichkeit ohne tägliche, tatkräftige Hilfe zu zerbröseln drohte.
    Kearney fühlte sich von alledem zu ihr hingezogen (oder auch von einer Galanterie, die er auf einer Ebene unter diesen ganzen Gesten der Panik und Selbstvereitelung entdeckte, wo eine Frau existierte, die fest entschlossen war, sich vom Leben zu nehmen, was ihr die Dämonen davon ließen). Doch es war ihre Art von Sex, die ihn bleiben ließ. Wenn Kearney nicht unbedingt ein Voyeur war, so war Anna nicht unbedingt eine Exhibitionistin. Keiner wusste vom anderen, mit wem genau er es zu tun hatte. Jeder blieb dem anderen ein Rätsel.
    Das allein sollte später genügen, um sie beide in Rage zu versetzen: Doch diese frühen Begegnungen waren wie Wasser in der Wüste. Zwei Tage nach seiner Promotion heirateten sie standesamtlich – er hatte sich extra einen Paul-Smith-Anzug gekauft. Danach blieben sie zehn Jahre zusammen. Sie blieben kinderlos, obwohl sie behauptete, welche zu wollen. Er stand ihr bei zwei Therapien und drei weiteren Magersuchtattacken zur Seite und bei einem letzten, fast nostalgischen Versuch, sich umzubringen. Sie sah zu, wie er dem Geld von Universität zu Universität folgte und den, wie er es nannte, ›MacScience‹ für die Unternehmen spielte und sich in der neuen Disziplin Complexity and Emergent Properties (* Komplexität und emergente Eigenschaften: Hierbei geht es um den Sachverhalt, dass ein System mehr ist als die Summe seiner Teile – dass es also emergente Eigenschaften hat, die sich erst aus dem Zusammenwirken seiner Teile ergeben.)auf dem Laufenden hielt und immer am Ball blieb, was den Shrander und das Morden betraf. Falls sie etwas ahnte, ließ sie es unausgesprochen. Falls sie sich jemals gefragt hatte, warum sie so oft umzogen, behielt sie es für sich. Eines Nachts dann, als er im Chelsea &Westminster Hospital auf ihrer Bettkante saß und auf ihre bandagierten Handgelenke starrte und sich fragte, wie es so weit hatte kommen können, da erzählte er ihr alles.
    Sie lachte und nahm seine Hände in die ihren. »Jetzt haben wir uns aber am Hals«, sagte sie; noch im selben Jahr ließen sie sich scheiden.

 
20
     
Das Dreikörperproblem
     
    Zwei Flugtage von Redline, und die White Cat änderte alle zwölf Nanosekunden ihren Kurs. Der Dynraum hüllte das Schiff in eine metaphorische, unermessliche Schwärze, aus der die behutsamen Finger schwach reagierender Materie griffen. Die Schattenoperatoren hingen bewegungslos an den Bullaugen und tuschelten in den alten Sprachen. Sie hatten ihre normale Gestalt angenommen, die einer Frau, die zutiefst besorgt auf ihren Fingerknöchel biss. Billy Anker mied ihre Nähe. »He«, sagte er, »was weiß ich, was die wollen!« Er versuchte sie aus dem Quartier für Menschen auszuschließen, doch wenn er schlief, krochen sie wie Rauch durch die Ritzen und hängten sich oben in die Ecken und sahen ihm zu, wie er seine abgestandenen Träume träumte.
    Auch Seria Maú beobachtete ihn. Feststand, dass sie bald Aufschluss haben würde: über den Mann und über dieses Objekt, das sie von Onkel Sip gekauft hatte. Bis dahin wollte sie sich mit der Schiffsmathematik unterhalten, um zu verstehen, was hinter ihr im Gange war, wo sich in einer Entfernung von etlichen Lichtjahren die Krishna-Moire- Herde auf chaotische Weise um die seltsame hybride Kennung des nastischen Schiffes wickelte, um alles in allem eine einzelne, verwässerte und unzuverlässige Spur auf dem Display zu erzeugen.
    »Bei der Distanz fällt es schwer, sich bedroht zu fühlen.«
    »Vielleicht will man uns gar nicht in Panik versetzen«, spekulierte die Mathematik. »Oder« – mit dem Äquivalent eines Achselzuckens – »vielleicht doch.«
    »Können wir sie abschütteln?«
    »Nein.«
    Diese Vorstellung fand sie unerträglich. Eine Einschränkung! Als wär man wieder ein Kind.

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