Licht
würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Die Tapete an den Wänden hatte die gelbliche Farbe von Fußsohlen. Niedrigwattlampen ließen einem zwanzig Sekunden, bevor sie die Treppe wieder in Dunkelheit hüllten. Vor dem Klosett roch es nach Gas, nach abgestandenem Eintopf aus den Zimmern im zweiten Stock. Dann überall Anisgeruch, der die Nasenschleimhäute besetzte. Am oberen Ende des Treppenhauses gab es ein Oberlicht mit dem funkelnden Orange der Londoner Nacht.
In einem der oberen Zimmer lag im trüben Neonlicht Valentine Sprake, hingestreckt in einem Lehnstuhl, der seinerseits in einem weißen Kreis stand, der mit Kreide auf die nackten Dielen gemalt war. Sein Kopf hing schräg hintenüber, als sei Sprake eben erst erschossen worden. Er war splitternackt und schien sich mit irgendeiner öligen Substanz eingerieben zu haben. Es glitzerte im spärlichen ingwerfarbenen Haar zwischen seinen Beinen. Der Mund stand offen und der Ausdruck auf dem Gesicht war gequält und friedlich zugleich. Er war tot. Alice, seine Schwester, saß auf einem kaputten Sofa außerhalb des Kreises, die Beine von sich gestreckt. Kearney erinnerte sich vage an die jugendliche Alice mit ihren trägen Bewegungen. Sie war zu einer großen Frau um die dreißig herangewachsen: schwarzes Haar, schneeweißer Teint und ein leichter, flaumiger Lippenbart. Ihr Rock war hochgerutscht und entblößte weiße, fleischige Oberschenkel; sie stierte über Valentines Kopf hinweg auf ein Bild an der gegenüberliegenden Wand. Aus diesem eigenartigen, billigen Exemplar religiöser Kunst, einem halb plastischen Leidensbild in Grün und Blaugrau, renkte sich die obere Hälfte von Christus in einer sehr unbequemen aber entschlossenen Geste des Umarmens ins Zimmer hinein.
»Alice?«, sagte Kearney.
Alice Sprake machte: »Joi. Joi joi.«
Kearney hielt sich die Hand vor den Mund und tat ein paar Schritte ins Zimmer.
»Alice, was ist hier passiert?«
Sie starrte ihn ausdruckslos an; dann an sich hinunter; dann wieder zu dem Bild an der Wand. Geistesabwesend fuhr sie mit den Fingern in ihre Scham und fing an, zu masturbieren.
»Christus«, sagte Kearney.
Sein Blick flog zu Valentine. Sprake umklammerte mit der einen Hand einen alten Elektrokocher und hielt in der anderen eine broschierte Ausgabe von Hodos Chameliontos von Yeats. Eben noch mochte er in der hieratischen Geste einer Tarotfigur die beiden Sachen mit ausgebreiteten Armen hochgehalten haben. Der Boden vor ihm war übersät mit Gegenständen, die ihm anscheinend aus dem Schoß gefallen waren. Muschelschalen, der Schädel eines kleinen Säugetiers: serbischer Zigeunerschmuck, der seiner Mutter gehört hatte. Kearney konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sich in dem Zimmer noch etwas anderes tat. Trotz der Unabänderlichkeit dessen, was passiert war, konnte durchaus noch mehr passieren.
Alice Sprake sagte: »Er war ein – guter Kerl.«
Sie stöhnte laut. Die kaputten Sofafedern knarrten, dann war Stille. Einen Atemzug später stand sie auf und streifte ihren Rock wieder über die Schenkel. Sie war bestimmt einsachtzig, wenn nicht mehr, überlegte Kearney. Ihre Größe wirkte beruhigend auf ihn, sie schien das zu spüren. Sie roch überwältigend nach Sex.
»Ich kümmere mich schon, Mikey«, sagte sie. »Aber du musst jetzt gehen.«
»Ich bin gekommen, weil ich Hilfe brauchte.«
Die Erklärung schien ihr nichts zu geben.
»Du bist schuld, dass es so gekommen ist. Du hast ihn in den Wahnsinn getrieben. Er hatte sich so viele wunderschöne Sachen vorgenommen.«
Kearney sah sie mit großen Augen an.
»Valentine?«, sagte er ungläubig. »Redest du von deinem Bruder Valentine?« Er lachte laut auf. »An dem Tag, als wir uns begegnet sind, war er ein von allen guten Geistern verlassenes Großmaul in einem Zugabteil. Er hat sich Tattoos mit einem Bic-Stift beigebracht.«.
Alice Sprake richtete sich zu voller Größe auf.
»Er gehörte zu den fünf mächtigsten Magiern in London«, sagte sie ganz ohne Pathos. Dann setzte sie hinzu: »Ich weiß, wovor du Angst hast. Wenn du jetzt nicht gehst, hetz ich es dir auf den Hals.«
»Nein!«, sagte Kearney.
Schwer zu sagen, wozu sie fähig war. Er starrte in Panik zwischen ihr und dem Toten hin und her, dann lief er aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und auf die Straße.
Anna schlief, als er in die Wohnung zurückkam. Sie hatte sich ins Federbett gewickelt, sodass nur das Haar herausschaute; überall hingen neue Zettel. Probleme anderer sind
Weitere Kostenlose Bücher