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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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»Der Gedanke ist mir noch nie gekommen.«
    »Nein«, sagte sie. »Nicht solche Langeweile. Nicht die Langeweile, gegen die ein Tauchschiff oder Twinktank hilft. Nicht die, hinter der sie die wirkliche Langeweile ein Leben lang versteckt haben.« Ed zuckte kaum merklich die Achseln und wollte beiseite sehen, doch diesmal brachten ihre Augen es fertig, seinen Blick festzuhalten. »Sie haben eine gelangweilte Seele, Ed; man hat sie Ihnen in die Wiege gelegt. Hungrig auf Sex, Ed? Damit wollen sie ein Loch stopfen. Sie vermissen den Tank? Er hat das Loch gestopft. Sie lieben den Kitzel, richtig? Sie sind nicht vollständig, Ed; der Kitzel ist ein Lückenbüßer. Jeder merkt Ihnen das an, sogar Annie Glyph: Ihnen fehlt etwas.«
    Er hatte das öfter zu hören bekommen, als sie ahnte, aber meistens unter anderen Umständen.
    »So?«, sagte er.
    Sie trat beiseite.
    »Da, jetzt können Sie die Nase ins Aquarium stecken.«
    Ed öffnete den Mund. Er machte ihn wieder zu. Er wusste nicht wieso, aber er kam sich vor wie ein Narr. Er wusste, er würde es tun, aus genau jener Langeweile, die sie erwähnt hatte. Er linste seitwärts ins Licht, das durch die offene Tür sickerte. Kefahuchi-Licht, in dem Sandra Shen nicht besser sondern schlechter zu sehen war. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch sie kam ihm zuvor. »Ed, die Show braucht einen Wahrsager.« Sie machte Anstalten sich abzuwenden. »Das ist die Vakanz. So kommen wir ins Geschäft. Und Annie Glyph könnte ein bisschen Bares gebrauchen. Café électrique kostet ein Vermögen.«
    Ed schluckte.
     
    Hinter den Dünen raschelt die See. Eine verwaiste Bar voll Staub und Kefahuchi-Licht. Am Boden kniet ein Mann, den Kopf in einer Art Aquarium, unfähig sich zu befreien, als ob ihn die trübe aber eiskalte Substanz darin gepackt habe und verdauen wolle. Die Hände zerren an dem Becken, die Armmuskeln schwellen. Schweiß rinnt in Bächen, die Füße beharken die Dielen und der Mann – man hat den Eindruck, er schreit – gibt ein unendlich leises, dünnes Winseln von sich.
    Minuten vergehen, bis seine Aktivität erlahmt. Die Orientalin, die ihn eingehend beobachtet, zündet sich eine Zigarette ohne Filter an. Sie raucht eine Weile, pflückt sich einen Krümel von der Lippe und gibt ihm das Stichwort: »Was sehen Sie, Ed?«
    »Aale. Sieht aus wie Aale, die von mir wegschwimmen.«
    Eine Pause. Seine Füße trommeln wieder auf den Dielen. Dann sagt er mit belegter Stimme: »Es kann viel zu viel passieren, verstehen Sie?«
    Die Frau stößt den Rauch aus, schüttelt den Kopf.
    »Das Publikum will mehr, Ed. Versuchen Sie es noch einmal.« Sie macht eine umfassende Geste mit ihrer Zigarette. »Alles, was passieren könnte«. erinnert sie ihn, als habe sie ihn vorhin schon mal erinnert: »Das eine, was passiert.«
    »Aber der Schmerz.«
    Der Schmerz scheint sie nicht zu kümmern. »Machen Sie weiter.«
    »Zu viel kann passieren«, wiederholt er. »Viel zu viel, verstehen Sie?«
    »Und ob ich das verstehe.« Sie klingt verständnisvoller. Sie bückt sich, um flüchtig und geistesabwesend seine verkrampften Schultern zu tätscheln, wie jemand, der ein Tier beruhigt. Sie kennt dieses Tier sehr gut, hat beträchtliche Erfahrung mit ihm. In ihrer Stimme schwingt das sexuelle Charisma alter, nichtmenschlicher Fiktionen. »Und ob ich das verstehe, Ed, glauben Sie mir. Aber versuchen Sie in mehr als vier Dimensionen zu sehen. Weil das nun mal Zirkus ist, mein Bester. Hören Sie? Zirkus ist Unterhaltung. Wir müssen den Leuten etwas bieten.«
     
    Als Ed Chianese wieder zu sich kam, war es drei Uhr früh. Bäuchlings hingestreckt auf der dem Meer zugewandten Rückseite des Dunes Motel betastete er vorsichtig sein Gesicht. Es war nicht so klebrig, wie er erwartet hatte: Die Haut fühlte sich aber glatter an als sonst und ein bisschen wund, wie manchmal, wenn er vor einem nächtlichen Streifzug ein billiges Peelingmittel benutzt hatte. Er war müde, aber alles – die Dünen, die von der Flut angehäuften Pflanzenreste, die Brandung – wurde von Augen, Nase und Ohren mit ungewöhnlicher Schärfe wahrgenommen. Er wähnte sich schon allein, als er sie sah. Madame Shen stand über ihm, die kleinen schwarzen Schuhe halb im Sand versunken, hinter ihr der Trakt, dessen Feuer den Nachthimmel verschlang.
    Ed stöhnte. Er schloss die Augen. Sofort überfiel ihn Schwindel, ein Nachbild des Trakts, das vor der Schwärze des Nichts um seine Mitte rotierte.
    »Warum tun Sie mir das an?«,

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