Licht vom anderen Ufer
jedes
Haus genau ansehen, wie er immer alles genau angesehen hatte.
Plötzlich zuckte er zusammen. Beim Leutascher, dem letzten Hof am Dorfausgang, hing aus dem Giebelfenster an einer Stange ein weißes Laken heraus.
Er stieg von seinem Fahrrad und starrte in leisem Erschrecken auf dieses weithin sichtbare Zeichen der Kapitulation. Es war ihm, als gebe ihm jemand einen Stich ins Herz und als breche eine ganze Welt zusammen, denn was er dort sah, war doch wohl auch der Zusammenbruch aller Ordnung, die aufrechtzuerhalten seine Pflicht war und deretwegen er eine Uniform trug und einen Karabiner.
Ein Kind schrie im Innern des Hauses: »Der Franko steht draußen!«
Gleich darauf wurde das Laken eingezogen und im schwachen Licht des beginnenden Abends erschien die leere Fensterhöhle groß und traurig. Eigentlich wäre es ja seine Pflicht gewesen, nun in das Haus einzutreten und zu fragen, was das zu bedeuten hätte, und ob sie vielleicht das Tuch mit dem anderen verwechselt hatten, das am zwanzigsten April noch so farbenfroh mit dem Hakenkreuz im weißen Feld aus derselben Dachluke herausgehangen hatte.
Frankenberg aber blieb ruhig auf sein Fahrrad gelehnt stehen und grübelte über die Wandlungsfähigkeit der Menschen nach, die ihre Gesinnung mit dem Wind wechseln konnten, indessen er dem verhaftet blieb, worauf er geschworen hatte. Dabei dachte er an den Eid, den er als blutjunger Rekrut auf dem Kasernenhof geleistet hatte. Wie hatte die Welt sich seither verändert.
Langsam schob er sein Fahrrad die Straße entlang, ein kleiner Mensch in graugrüner Uniform, der jetzt darüber nachdachte, ob es wohl schwer sein würde, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wenn die Amerikaner nun wirklich kamen. Die Ordnung, das Recht und das Gesetz. Er dachte auch an seinen jüngsten Sohn, den Leutnant Rudi Frankenberg, der doch wie viele andere für diese Ordnung gefallen war. Und nun schien es so, als sei er umsonst gefallen, denn von einem Sieg konnten nur noch Narren träumen.
Bei der kleinen Grotte am Ufer der Riss blieb er wieder stehen. In der Grotte stand eine Figur des heiligen Sebastian, in dessen magerem Leib ein Dutzend Pfeile steckten. Zu Füßen des Heiligen stand eine große Schale mit Frühlingsblumen, Märzenbechern und Tulpen.
Neben der Grotte war zwischen zwei Vogelbeerbäumen eine Bank aufgestellt. Frankenberg lehnte sein Fahrrad an einen der Bäume und setzte sich auf die Bank. Er nahm die Mütze ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte auf das eilig dahinströmende Wasser der Riss, die in diesen Tagen ziemlich hoch ging.
Als er aufschaute, sah er, dass beim Leutascher wieder die weiße Fahne aus der Dachluke wehte. Ein wehmütiges Lächeln zuckte um seinen Mund und seine Augen waren plötzlich leer. Er dachte an ein paar stille Jahre, die er nach dem Frieden wohl noch leben durfte, an seine Bienenstöcke und an die Rosenbeete hinter dem Haus. Nach dieser Zeit hatte er sich immer gesehnt. So ganz still im Kreise seiner Kinder und Enkel leben. Einer freilich würde fehlen, sein Lieblingssohn Rudi. Und wie schon so oft sah er ihn fern unter einem fremden Himmel liegen, still und für immer stumm.
Der alte Mann spürte, wie ihn etwas ganz heiß durchflutete, kein Zorn oder das Gefühl der Rache, vielleicht war es die Wucht des Schmerzes, dass er den Tod seines Sohnes hinnehmen musste. Er konnte plötzlich nicht mehr auf den weißen Fetzen sehen, nahm sein Fahrrad wieder und schob es langsam am Ufer der Riss entlang.
Die Straße mündete in einen hohen Tannenwald. Hier war es feierlich und still wie in einer Kirche nach der Morgenandacht, wenn die Kerzen erloschen waren. Zwitschernd huschten die Vögel durch die Zweige und m der Tiefe des Waldes rief ein Kuckuck.
Auf einmal wurde die Stille durchbrochen. Plötzlich war das klirrende Geräusch von Panzerketten hörbar und das Dröhnen der schweren Motoren brach sich hundertfach in den Echogründen des Waldes.
Dem alten Mann war es, als riefe ihn etwas. Es kam ihm vor, als habe er allein noch auf Posten zu stehen, weil alle anderen ihn verlassen hatten. Dann überkam ihn eine eiserne Ruhe. Er lehnte sein Fahrrad abseits an einen Baum und nahm den Karabiner von der Schulter. Genau wie auf dem Schießstand sah er sich die Kammer noch einmal an. Mit bösem Laut schnappte das Schloss ein.
Drei Panzer waren es nur, riesige Ungetüme, mit waagerecht gelegtem Geschützrohr. Aus der Luke des mittleren Panzers ragte ein junges, braun gebranntes
Weitere Kostenlose Bücher