Licht vom anderen Ufer
mit dir gehen, Oliver?« Anna fragte es ängstlich, wie ein kleines Mädchen, das die Dunkelheit fürchtet.
»Natürlich kommst du mit, Engel.«
Sie wollte nicht, dass er sie weiterhin an der Hand führe. Aber er umfasste ihre Hand nur noch fester. Und so gingen sie durch das Dorf, allen sichtbar, die da herumstanden oder verstohlen aus den Fenstern sahen. Dann hielt der erste Posten sie an. Oliver zeigte seinen Ausweis. Er war okay, aber das Mädchen war nicht okay und sollte zurückbleiben. Sie durfte nicht mit zur Kommandantur gehen und musste draußen warten. Noch nie hatte sie irgendwo so demütig und bangen Herzens gestanden, wie in dieser Vormittagsstunde im breiten Flur des Gasthauses »Zu den vier Aposteln«. Sie hörte aus dem Nebenzimmer verworrene Stimmen in einer fremden Sprache, bald leise, dann wieder lauter. Und wenn die Stimmen heftiger wurden, glaubte sie, dass zu ihren Ungunsten gesprochen wurde. Nur gut, dass sie nichts davon verstand. Aber da drinnen wurde Oliver Pratt eindeutig und klar gesagt, dass er sich sofort in ein Lazarett zu begeben habe, und außerdem wurde ihm klargemacht, dass es ein Fraternisierungsverbot gab, dem auch er sich unterzuordnen habe.
Dann wurde die Tür aufgerissen und ein baumlanger Soldat bedeutete Anna einzutreten.
Oliver Pratt saß dem Major in einem bequemen Polsterstuhl gegenüber, den sie aus der guten Stube des »Apostel«-Wirtes geholt hatten. Als Anna eintrat, standen der Major und Oliver auf. Verzweifelt suchte sie Olivers Blick und es schien ihr, als weiche er ihr aus.
Sie sah, dass der Major ihr die Hand hinstreckte und legte schüchtern die ihre hinein. In tadellosem Deutsch sagte er:
»Ich habe Ihnen im Namen der amerikanischen Armee Dank auszusprechen, für das, was Sie getan haben. Es war ein Wagnis, das wir sehr anerkennen.«
»Ich habe es gern getan«, sagte Anna.
»Bitte, nehmen Sie Platz.«
Sie bekam weiter zu hören, dass sie sehr tapfer und mutig gewesen sei und dass ihr Verhalten zeige, dass auch in einem Meer von Hass ein paar Tropfen Güte und menschliche Größe schwimmen können.
Dann machte der Major eine kleine Pause, zündete sich eine Zigarette an und schaute zum Fenster hinaus. Diesen Augenblick benutzte Anna und fasste über den Tisch hin Olivers Hand.
Lieber, geliebter Oliver, sagten ihre Augen. Ihr Mund aber blieb fest geschlossen.
Der Major drehte sich wieder um. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr imponiert mir das, was Sie getan haben. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, sagen Sie es ruhig.«
Anna sah den Major ruhig und groß an. »Ich möchte – dass Oliver noch eine Weile hier bleiben darf.«
Sie sah die kleine Wolke auf der Stirn des Majors kommen und gehen. Dann zerdrückte er die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher.
»Leutnant Pratt, Sie werden dem Mädchen sagen, warum das nicht geht. Also, überlegen Sie sich einen anderen Wunsch.«
Anna dachte eine Weile nach. Dann sagte sie: »Ich habe einen Bruder – wir wissen seit Wochen nichts mehr von ihm – vielleicht ist er in irgendeinem Gefangenenlager.«
Der Major nickte. »Vielleicht kann ich etwas für ihn tun. Es würde mich freuen.« Er notierte sich Namen und Adresse des Unteroffiziers Matthias Rauscher, dann nahm er den Leutnant Pratt scharf in sein Blickfeld.
Oliver stand auf und legte seinen Arm fest um Annas Schulter. »Sei nicht traurig, Engel. Ich darf und kann mich einem Befehl nicht widersetzen. Aber ich werde wiederkommen! «
»Und ich werde auf dich warten, Oliver.«
Der Major lächelte auf eine Weise, die bedeuten konnte: Du bist schon so erwachsen und bist so tapfer gewesen und willst nicht verstehen, dass alles Warten hier keinen Zweck hat. Für ihn war ja der Krieg noch nicht zu Ende, und wenn das Ende in diesem Land vielleicht auch schon abgezeichnet sein mochte, es gab für die Amerikaner noch eine andere Front, an der gerade Flieger notwendig gebraucht wurden. Zunächst aber musste Leutnant Pratt unbedingt in ein Lazarett. Vielleicht war das mit seinem Arm doch nicht ganz so harmlos, wie er es hinstellte. Und weil den beiden das Auseinandergehen anscheinend recht schwer fiel, musste der Major jede Regung von Milde unterdrücken und dem Mädchen eindeutig klarmachen, dass sie gehen müsse.
Er selbst geleitete sie zur Tür und stand dann mit seinen Schultern so breit im Rahmen, dass Anna nicht mehr zurückschauen konnte auf Oliver, der wie verloren im Raum stand und sich erst zusammenriss, als der Major wieder vor ihm
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