Licht vom anderen Ufer
wird alles anders lenken, als du jetzt meinst, das Leben scheint jetzt stillzustehen, aber einmal wird es sich von selber wieder ankurbeln. Und wenn der Thomas erst wieder hier ist, wirst du erkennen, dass das alles bloß eine Verirrung war, aus der du wieder zurückfinden musst.«
Anna war es müde, dem Vater diese Meinung auszureden. Hier trennten sich ihre Auffassungen und er würde sie nie verstehen.
»Ist die Mutter drinnen?«
»Ja, in der Küche. Aber lass wenigstens sie nicht hören, welche Gedanken du hast.«
»Nein, ihr habe ich etwas anderes zu sagen. Nämlich, dass der Matthias bald kommen wird, falls er noch lebt. Das wenigstens hat man mir bei der Kommandantur vorhin versprochen.« Ihr Mund kräuselte sich spöttisch. »Irgendwie muss man mir doch gefällig sein.«
Eine Stunde später verließ Anna den Hof, um auf die Alm zurückzukehren. Der Gang durch das Dorf war wie ein Spießrutenlaufen. Überall saßen die fremden Soldaten in ihren kaffeebraunen Uniformen herum und riefen ihr Worte nach, die sie nicht verstand. Auf der Brücke blieb sie noch mal stehen und schaute zurück in der stillen Hoffnung, vielleicht Oliver noch einmal zu sehen. Es war vergebens und langsam ging sie weiter. Wie verändert war doch plötzlich ihr ganzes Leben, seit sie wusste, was wirkliche Liebe ist. Und so hatte diese herrliche Liebe enden müssen, so klanglos, so armselig. Nicht einmal richtig Abschied hatte sie von Oliver nehmen können. Unbarmherzig war das Gesetz über ihre Liebe hinweggegangen.
Immer höher kam sie. Vertraulich kam ihr das Herdengeläute entgegen. Wie traumverloren das Echo durch den Wald ging. Die Vöglein jubilierten in den Zweigen um die Wette und der Wind spielte in den hohen Fichtenwipfeln.
Plötzlich weiteten sich ihre Augen. Vor der Hütte stand ein Jeep und neben dem Jeep ein Mann – ein Soldat – Oliver.
Zuerst konnte sie sich kaum rühren, so fuhr ihr dieser selige Schreck in die Glieder. Dann stieß sie einen jubelnden Schrei aus und breitete die Arme weit, um den Mann aufzufangen, der jetzt mit großen Sprüngen den Hang herunterkam.
Oliver trug eine neue Uniform, war frisch rasiert und hatte einen Glanz in den Augen, der Anna eigentlich hätte beglücken müssen. Doch während sie seine Liebkosungen trafen, fehlte ihr einfach der Glaube an seine Worte, dass er wiederkommen werde.
Die Worte des Vaters fielen ihr wieder ein: »So eine bist du also.« Und weil man sie scheinbar für etwas hielt, was sie gar nicht war, wurden ihre Zärtlichkeiten von dem Bewusstsein getragen, dass doch niemand diese Liebe verstünde, außer ihr und Oliver allein.
Es war eine Henkersmahlzeit, die sie hielten. Traurigkeit drang in ihre Gedanken an die weitere Zukunft. Trotzdem wagte sie die scheue Frage:
»Darfst du vielleicht noch ein paar Tage hier bleiben, Oliver?«
Er schüttelte den Kopf. »Leider nein, Engel. Glaub mir, ich habe es noch nie so verwünscht, Soldat zu sein, der gehorchen muss. Das allein ist schon Grund, dass ich jetzt nur noch ein paar Stunden bei dir sein kann. Am Abend muss ich im Lazarett eintreffen, das etwa dreißig Kilometer von hier entfernt ist.«
»Ach, in Dürrnheim vielleicht?«
»Ja, Dürrnheim heißt es, glaube ich.«
»Und wirst du dort länger bleiben, Oliver?«
»Ich weiß es nicht, aber ich wünsche es.«
»Zählen denn unsere Wünsche noch, Oliver?«
»Du hast Recht, Anna. Wir Menschen sind in dieser Zeit nur Nummern, die dem Gesetz gehorchen müssen.«
»Und Liebe ist kein Gesetz?«
»Liebe ist Glaube, Zuversicht und Hoffnung. Ich weiß, dass ich dich eines Tages wiedersehen werde. Ich weiß nicht, wann es sein kann, Engel. Aber einmal werde ich wieder vor dir stehen und dann können wir zusammen sein. Ach – es wird alles sehr schön werden, Engel. Und die Kinder werden dich dann fragen, was du da für einen merkwürdigen Schmuck um den Hals trägst, und wir werden ihnen erzählen, dass es ein Granatsplitter ist und dass du mir das Leben gerettet hast.«
Sie wurde ganz still und nachdenklich bei seinen Worten. Und als er schwieg, sagte sie: »Bitte, träum weiter, Oliver.«
»Träumen? Wieso? Glaubst du denn nicht – «
»Ich möchte und kann es nicht. Es wäre alles zu schön, um wahr zu sein.«
»Aber Anna, es ist doch alles wahr«, sagte er erregt.
Sie streichelte seine Hand. Ihr Kopf lag an seiner Schulter. Und dann sahen sie sich lange an. Sie wusste nicht, was sie ihm noch alles sagen sollte. Wenn du mich jetzt allein lässt, möchte
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