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Licht vom anderen Ufer

Licht vom anderen Ufer

Titel: Licht vom anderen Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Ernst
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sie sagen, dann ist alle Wirklichkeit zu Ende und das Träumen beginnt. Du meinst es gut mit mir, aber manchmal bist du doch ein recht großes Kind. Ich passe doch nicht in deine Welt der Fleischbüchsen und Konservendosen. Du denkst nicht daran, Oliver, müsste sie ihm weiter sagen, dass ich doch hier meine Wurzeln geschlagen habe und dass ich das auch brauche zu meinem Leben, so wie ich dich nötig hatte.
    Aber all das blieb ungesprochen. Die Zeit verstrich und der Himmel verwandelte sich im Westen schon zu einem zitternden Gelb.
    Plötzlich hatte Anna einen verwegenen Gedanken. Sie strich zärtlich mit ihren Lippen über seine Schläfe, dann brachte sie ihren Mund ganz nahe an sein Ohr. »Und wenn du gleich dableiben würdest, Oliver?«
    Sein Kopf zuckte zurück. Er sah sie erschrocken an.
    »Anna! Das geht doch nicht. Der Krieg ist noch nicht zu Ende.«
    »Für dich und mich müsste er einfach zu Ende sein. Also bleibst du hier.«
    »Weißt du, was dann mit mir geschehen würde?«
    »Ja, das weiß ich ganz genau. Ich würde dich lieben und verwöhnen und du würdest nie mehr Sehnsucht haben nach der Welt da draußen.«
    Oliver nahm ihr Gesicht in die Hände. Noch nie war sie ihm so schön erschienen, wie in diesen Minuten der verhaltenen Erregung.
    »Du hast mich falsch verstanden, Anna. Mit mir würde etwas ganz anderes geschehen. Sie würden mich suchen und vor ein Kriegsgericht stellen.«
    »Und dann erschießen?«
    »Höchstwahrscheinlich.«
    »Also, dann macht man das bei euch genauso wie bei uns. Alle Soldaten der Welt werden erschossen, wenn sie lieben wollen.«
    »Nicht wenn sie lieben wollen, sondern wenn sie fahnenflüchtig werden.«
    Anna grübelte eine Weile vor sich hin. Dann fragte sie: »Würde man mich auch erschießen, Oliver?«
    »Das wohl kaum. Du wärst ja nicht schuldig.«
    »Dadurch vielleicht, dass ich dich zurückgehalten habe.«
    Oliver stand plötzlich auf und ihre Hände fielen wie Blei herunter.
    »Du bist ein lieber Kerl, Anna, aber du redest jetzt auch lieben Unsinn. Es geht doch jetzt nicht darum, miteinander sterben zu wollen. Unser Leben soll und wird erst beginnen. Und wenn der Krieg erst ganz zu Ende gebracht ist, gibt es doch für uns ganz andere Möglichkeiten. Das alles aber wäre zu Ende, wenn ich jetzt nicht vernünftiger wäre als du. Das musst du verstehen, Engel.«
    Da stand auch Anna auf und lächelte ihn an, als habe sie nur einen Scherz gemacht. Wie bitter ernst es ihr gewesen war, das durfte er jetzt nicht mehr erfahren. Die Innenflächen ihrer Hände zeigten es. Tief drückten sich die Fingernägel in das Fleisch. Dann hatte sie vier kleine Wundmale in jeder Hand.
    Mit ihrem so absonderlichen Gedanken hatte sie ihm aber bewusst gemacht, dass er gar nicht mehr hier sein dürfte, dass er schon im Lazarett eingetroffen und sich beim Stabsarzt hätte melden müssen. Was, wenn der Major jetzt dort anrief? Er riss sich zusammen. »Ich muss jetzt gehen, Anna. Ich werde dir schreiben, sobald es geht.«
    »Ja, bitte schreib«, flehte sie. »Ich werde deine Briefe sehr brauchen.«
    »Wenn es auch lange dauert, mein Engel, wirst du mich immer lieb behalten?«
    »Gerade das solltest du nicht fragen, Oliver, weil es selbstverständlich ist.«
    Mit der einen Hand hielt er sie noch an der Schulter fest. Die andere lag auf dem Lenkrad. Anna sah über seine Schulter hinweg zu den Bergen hinauf, über denen das Abendrot leise zitterte.
    »Ich liebe dich, Oliver, und werde dich noch lieben, selbst wenn du mich schon vergessen hast.«
    »Anna… «, rief er und riss sie noch einmal an sich.
    Dann holperte der Wagen über den steinigen Fahrweg und verschwand im Wald.
    In einem einzigen Monat wachsen die Menschen zuweilen mehr, als in vielen Jahren vorher oder nachher. In dem einen Monat, in diesem Mai, geschah mehr, als sich sonst in einem Jahr abspielte.
    In diesen vier Wochen hatte Anna Rauscher einsehen gelernt, dass sie das Erlebnis mit Oliver Pratt als einen Traum betrachten musste, der niemals wieder in die Wirklichkeit geholt werden konnte. Diesem Traum allerdings hatte es der Unteroffizier Matthias Rauscher zu verdanken, dass er bereits drei Tagen nach dem Einrücken der Amerikaner in Blockstein entlassen wurde und wieder in den Goldenen Grund kam.
    Der Major hatte, wie er es Anna versprochen hatte, den Draht in ein Dutzend der vielen Gefangenenlager, die es in diesen Tagen überall gab, spielen lassen. Tatsächlich wurde der Unteroffizier Rauscher ausfindig gemacht und

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