Licht vom anderen Ufer
stehen.«
»Was heißt unter dir? Jeder Mensch ist das, wofür er sich hält. Und ich bin immer noch die Anna Rauscher vom Goldenen Grund.«
In diesem Augenblick hätte sie der Cilli eine schallende Ohrfeige geben können, weil sie wieder so grell lachte, wo es nicht passte. Im Grunde genommen dachte sie aber manchmal: Macht doch ihr, was ihr wollt. Ich gehe sowieso bald wieder auf meine Alm, dann sehe und höre ich nichts mehr.
Ja, die Zeit dafür rückte wieder heran. Wie ganz anders war das im Vorjahr noch. Da war noch Krieg gewesen. Natascha war noch da und die beiden Franzosen Jean und André. Und sie hatte noch nichts von Oliver gewusst.
Statt der Natascha war heute die Cilli mit auf dem Feld. Statt der beiden Franzosen Blasius und Matthias, der junge Bauer. Der Vater ging auch heute wieder hinter dem Pflug, aber er war der »alte Rauscher« geworden, ein Mann, den die plötzliche Vereinsamung verwandelt hatte und der mit Behäbigkeit alles an sich vorbeiziehen ließ, was ihn sonst noch zornig hätte aufbegehren lassen. Noch nie war ein Jahr so schnell im Strom der Zeit ertrunken wie dieses, obwohl es in jeder Hinsicht ein bewegtes Jahr gewesen war, mit einem verlorenen Krieg, mit Tod und Hochzeit und mit Oliver Pratt, der nichts mehr von sich hören ließ.
Die Glocke vom Dorf läutete wieder wie damals, die Stare flogen über den Acker hinweg und der Wind sang leise in den Haselnussbüschen, wo sie sich zur Brotzeit niederließen.
Und doch war alles ganz anders als vor einem Jahr. Anna hatte die Hände zusammengelegt und ihr kam es vor, als fielen die Monate zwischen ihren Fingern wie durch ein Sieb auf den Boden zu ihren Füßen. Sie hatte den brennenden Wunsch, das Jahr wie ein Rad zurückdrehen zu können, um alles nochmals zu erleben, und zwar bewusster zu erleben, das schnelle Schlagen des Herzens vor dem Wunder der Liebe, die Verzauberung, die Angst und den ersten Kuss. Aber das alles war ja vergangen wie ein Zauber, der sich im Wind der Zeit verloren hatte und liegen geblieben war, irgendwo, in der weiten Ferne.
Sie sah den Vater an, der langsam sein Brot mit dem Messer in kleine Stücke schnitt, und fragte plötzlich:
»Kannst du dich noch erinnern, Vater? Im vorigen Jahr, als wir hier saßen, stand plötzlich der Schleicher vor uns.«
Der Rauscher nickte. »Wo der bloß untergetaucht sein mag? Er ist einfach spurlos verschwunden.«
Matthias schaute zu einem Bussard auf, der hoch über dem Acker seine Kreise zog. Dabei sagte er:
»Es sind noch andere spurlos verschwunden und haben nichts mehr von sich hören lassen.«
Zuerst herrschte allgemeines Schweigen. Dann lachte die Cilli hell auf. Anna sprang das Blut ins Gesicht. Sie wusste, wer gemeint war, und war nahe daran, mit beiden Fäusten in das höhnisch grinsende Gesicht des Bruders hineinzuschlagen. Nur, weil der Vater dabei saß, beherrschte sie sich. Langsam stand sie auf und streifte ihren Rock glatt. Dann sagte sie:
»Ausgerechnet du hast es nötig, Pfeile auf mich abzuschießen. Wer weiß, wo du heut noch stecken würdest, wenn ich nicht gewesen wär.«
Matthias lächelte spöttisch. »Sag mir das nur recht oft, damit ich es nicht vergesse. Wenn ich es noch nicht getan haben sollte, dann sag ich dir halt nachträglich noch ein Vergelt’s Gott für deine schwesterliche Fürsorge.«
»Auf dein Vergelt’s Gott kann ich verzichten«, antwortete Anna und ging von der Gruppe weg auf den Acker hinauf, um die Kartoffeln noch nachzulegen in dem Stück, das ihr zugeteilt war.
»Nein, nein«, sagte die Cilli. »Sagen darf man überhaupt nichts mehr. Wegen jeder Kleinigkeit ist sie beleidigt.«
Der Rauscher steckte sein Messer in die Scheide und ließ es in einer Hosentasche verschwinden. Dann sah er den Matthias an und die Cilli.
»Ich bitt mir aus, dass an der Sache nicht mehr gerührt wird. Du sollst nicht vergessen, Matthias, dass du es tatsächlich deiner Schwester zu verdanken hast, dass du so früh heimgekommen bist.«
Dann stand er auf, ging auf den Pflug zu und griff nach dem Leitseil. Langsam setzten sich die beiden Goldfüchse in Bewegung.
Der Bussard schwebte immer noch über dem Acker.
Dann zog er jedoch langsam davon und fiel in den nahen Wald ein.
Der Frühling tänzelte durchs Tal, über saftig grünende Saaten, über Wiesen, die gelb waren voller Löwenzahn, und über die blühenden Kirschbäume. Die kleinen, weißen Frühlingswolken spielten sich im klaren Wasser der Riss, die ziemlich hoch ging, seit Sonnenwärme
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