Lichterfest
Kleidung!«
»Wir müssen zurück ins Spital!«
Manchmal erwog ich ernsthaft, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Ökologie und so. Vor allem aber ging es mir um Zeitersparnis. War man keiner dieser Velofahrer, die Verkehrsregeln höchstens als vage Empfehlung zur Kenntnis nahmen, brachten einen die Straßenbahnen und Busse in dieser Stadt wohl am schnellsten ans Ziel.
Das ließ ich mir durch den Kopf gehen, während ich mit stotterndem Motor am Central vor einem Zebrastreifen wartete. José hatte die Scheibe heruntergekurbelt, rauchte und beobachtete träge die Fußgänger, die die Straße überquerten und ins Niederdorf, die putzige Altstadt Zürichs mit ihren Boutiquen und touristischen Restaurants, einbogen.
»Mach mal Musik«, maulte er.
»Was denn?«
»Normalerweise hörst du doch immer Guns N’ Roses. Das wär jetzt perfekt.«
Bedauernd hob ich die Hände vom Lenkrad. »Die CD ist leider bei meinem letzten Ausflug in die Berge zerstört worden.« Ich hielt José die völlig verdreckte CD, die ich aus nostalgischen Gründen im Seitenfach meiner Tür aufbewahrte, unter die Nase.
»Wieso schmeißt du die nicht weg?«
»Erinnerung an meinen ersten großen Fall. Und jetzt mein Glücksbringer.«
José schnaubte. »Da schreiben sie hochkomplizierte Computerprogramme für die renommiertesten Firmen dieser Welt, ihre Wirtschaft floriert dermaßen, dass sich der Westen in die Hose pinkelt, und das Filmbusiness ist mächtiger als Hollywood – aber diese Inder sind derart abergläubisch, als würden sie immer noch im Dschungel auf den Bäumen hocken!«
»Inder ohne Aberglauben sind etwa so selten wie spanische Junggesellen, die nicht bei ihrer Mama wohnen.«
»Musik!«
Ich langte nach hinten, nahm blind eine CD vom Haufen auf dem Rücksitz und legte sie ein. Muse. The Resistance. Da konnte Guns N’ Roses bedenkenlos mal eine Pause einlegen.
Uns gegenüber, auf der anderen Seite der Kreuzung, befand sich ein Steinwall, auf dem großformatige Werbeplakate klebten. Links zogen drei folkloristisch gekleidete Männer auf einer Holzbank griesgrämige Gesichter, der Text darunter verriet, dass die Appenzeller das Rezept für ihren Käse unter keinen Umständen herauszurücken gedachten. Ohnehin konnte ich mir nicht vorstellen, wer in aller Welt den milde ausgedrückt intensiv riechenden Käse zu Hause herstellen wollte. Wenn ich mir jedoch die verkniffenen Mienen der Appenzeller ansah, wunderte es mich nicht, dass sie beim Frauenstimmrecht bis 1990 genauso stur gewesen waren.
Daneben hing Wahlpropaganda der größten Schweizer Partei. VPRS nannte sie sich: Volkspartei zur Rettung der Schweiz. Vor Pathos und Peinlichkeiten waren die wackeren Herren und die wenigen kaum besonneneren Damen noch nie zurückgeschreckt. Die Partei war bekannt dafür, gebetsmühlenartig das Elend, das jedwede Ausländer über die gebeutelte Schweiz brachten, zu beklagen und tat dies stets in Großbuchstaben und an Banalität nicht zu unterbietenden Slogans. Schließlich sollte jede Oma die wenigen Worte auch ohne Sehhilfe entziffern können und sich Stammtischanalphabeten nicht unnötig das Hirn zermartern müssen. Und es wirkte. Gerade auf dem Land war die VPRS äußerst beliebt, nur in urbanen Gebieten stand man ihrer wenig differenzierten Politik kritischer gegenüber. Größere Wahlerfolge blieben hier auch aus, was laut Führungsebene daran lag, dass Lehrerinnen und Krankenschwestern, Künstler und andere dubiose Berufsstände, die bevorzugt links wählen würden, den städtischen Wohnraum zuhauf besetzten.
Doch jetzt grinste Walter Graf, ein hemdsärmelig wirkender Unternehmer mit grau meliertem Seitenscheitel und einer in ihrer Buntheit gewagten Brille mit unglaublich weißen Zähnen unter einem perfekt gestutzten Schnurrbart von den Plakaten und sollte alles verändern. Bereits vor vier Jahren, bei den letzten Wahlen, hätte er die Partei zum lang ersehnten Erfolg führen sollen – hatte es doch in der Geschichte der Stadt Zürich noch nie einen VPRS-Stadtpräsidenten gegeben –, war jedoch kläglich gescheitert. Seither hatte Graf es nie versäumt, bei jeder noch so kleinen Ungereimtheit in der Stadtregierung mit quengeligem Unterton darauf hinzuweisen, dass dies unter seiner Ägide niemals geschehen wäre, und in Interviews kaschierte er die ungeheure Beleidigung, die seiner Meinung nach die Nichtwahl bedeutete, nicht einmal ansatzweise. Er hätte schon gewusst wie, aber man habe ihn ja nicht gewollt und jetzt
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