Lichterfest
zweier moderner Bauten verlief. Weiter vorne, wo es wieder heller wurde, entdeckte ich die flatternden Schöße seines Mantels. Mein Puls hämmerte.
Der Vermummte stürmte in die Chorgasse hinein, Sekunden später tat ich es ihm gleich. Hier, zwischen den hohen Altstadtgebäuden, war es unnatürlich still, als befände sich das Quartier unter einer schalldichten Glocke. Ich hörte nur meinen rasselnden Atem und das monotone Aufsetzen meiner Gummisohlen auf den Pflastersteinen.
Unvermittelt mündete die Gasse in einem breiteren Gehweg. Neumarkt. Der Mann hetzte unermüdlich weiter. Keuchend umlief ich eine Gruppe amerikanischer Touristen, die, jeder einen Plastikbecher mit Strohhalm in den Händen, gemächlich wie eine träge Elefantenherde mitten auf dem Sträßchen trottete. Der Schweiß lief mir mittlerweile übers Gesicht, doch auf der Höhe des Oliver Twist, eines Pubs, in dem skandinavische Au-pairs ihre Trinkfestigkeit und in unmittelbarer Folge die Kunst des Zungenkusses an verdutzten Einheimischen trainierten, hatte ich den Mann fast eingeholt. Ich streckte schon den Arm aus und griff nach ihm, doch er entkam mir um Haaresbreite in die quer verlaufende Marktgasse. Wie ein Sprinter auf der Zielgeraden mobilisierte ich meine Kräfte und beschleunigte, und direkt vor dem Pornokino, das mitten in der Touristenmeile seltsam deplatziert wirkte und an eine längst vergangene Zeit erinnerte, als das Niederdorf noch eine verruchte Gegend war, kriegte ich einen Zipfel seines Schals zu fassen. Ich zog daran, doch der Typ wirbelte behände herum, strauchelte durch die jähe Bewegung und wäre beinahe Kopf voran gegen eine blassgelbe Hausmauer geprallt. Aber er hatte erreicht, dass ich seinen Schal losgelassen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde stand der Vermummte keuchend still. Als ich ihn am Arm packte, drehte er sich blitzschnell um und rammte mir seinen Ellbogen in die Brust. Ich wäre beinahe gestürzt, erst im letzten Augenblick fand ich mein Gleichgewicht wieder. Nach Luft schnappend, nahm ich die Verfolgung erneut auf.
Schatten legten sich auf die Durchgänge, und an den Tischen vor den Restaurants saßen Leute vor Pizzas und großen Bierkrügen und sahen uns verwundert hinterher. Schon erklomm der Mann die nächste Anhöhe, dann verlor ich ihn aus den Augen. Als ich an der Stelle angelangte, an der ich ihn zuletzt gesehen hatte, war er wie vom Boden verschluckt. Atemlos hielt ich nach allen Seiten Ausschau.
Ich befand mich vor dem Café Schober, nach dessen Besuch einem von der üppigen, papageibunt wuchernden Dekoration, die ein ›Zuviel‹ nicht gelten ließ, und den nicht weniger üppigen Süßspeisen stets etwas blümerant war. Zu beiden Seiten bogen schmale Gässchen ab, eins führte zur Limmat hinunter, das andere stieg steil an. Ich entschied mich nicht zuletzt aus Bequemlichkeitsgründen für den Fluss, doch ich ahnte bereits, dass ich ihn verloren hatte. Und damit auch das offenbar wichtige Material, das Fernando bei sich getragen hatte. Völlig ausgepumpt ließ ich mich gegen die nächste Hausfassade fallen. Mein Herzschlag dröhnte in den Ohren. Ich stützte die Hände in die Seiten, während sich mein Oberkörper ganz von allein nach vorn krümmte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wieder zusammenhängend fluchen konnte.
Abgekämpft wie ein chinesisches Kind nach einer Doppelschicht in der Ziegelfabrik schleppte ich mich die Auffahrt zum Spital hinauf. Aneinandergereihte Bänkchen aus rotbraunem Holz erinnerten mit ihrem Fünfzigerjahrestil und den kugeligen Bäumchen daneben ein wenig an Nizza. Rauchend grinste mir José von einer dieser Bänke entgegen.
Neben ihm saß ein mediterran aussehender, junger Mann im weißen Arztkittel. Er musterte mich kritisch, während er sich das perfekt getrimmte Bärtchen kratzte. »Etwas mehr Sport würde Ihnen guttun.«
»Guttun würde mir jetzt ein kühles Bier«, keuchte ich und ließ mich neben den Gesundheitsapostel auf die Bank fallen.
Er wiegte abwägend den Kopf. »Alkohol nach körperlichen Anstrengungen empfiehlt sich nicht.«
»Wann empfehlen Sie ihn dann?«
Der Arzt ließ sich nicht beirren und studierte mich weiter, als litte ich an einem faszinierenden, womöglich unentdeckten Ausschlag, der eines fernen Tages nach ihm benannt werden würde.
»Ich bin übrigens Dr. Biasi«, stellte er sich vor, obwohl dies deutlich lesbar auf dem Namensschild stand, das an seiner Brusttasche baumelte.
Das berühmte Biasi-Exanthem. Entdeckt vom
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