Lichterfest
zierten den Tresen und Berge von frisch zubereiteten indischen Süßspeisen türmten sich in den Schalen im Kühlregal. Diwali war für Hindus gleichbedeutend mit Weihnachten für Christen. Während fünf Tagen wurde gefeiert, dass laut dem indischen Nationalepos Ramayana der Gott Rama zusammen mit seiner Frau und seinem Bruder nach jahrelangem Exil im Dschungel, in dessen Verlauf er nebenbei den Dämon Ravana bezwang, in die Hauptstadt zurückkehrte, um gekrönt zu werden. Aus Freude darüber und um ihm den Weg durch die dunkle Nacht zu weisen, entzündeten die Menschen Öllampen entlang des Pfades. Im Süden Indiens hingegen wurde mit dem Fest dem Gott Krishna gehuldigt, der nicht nur einen Dämon besiegt, sondern darüber hinaus auch gleich noch sechzehntausend Frauen aus dessen Gefangenschaft gerettet hatte. Bis heute hatte die Sage nichts von ihrer Brisanz verloren und diente unter anderem der Schweizer Bundesrätin mit den meisten blondierten Strähnchen während der Libyenaffäre und der damit verbundenen Befreiung der Geiseln als willkommene Inspiration.
Meine Mutter verzog anklagend den Mund. »Und ich muss noch all die speziellen Speisen zubereiten, Kheer, Khoya, Laddoo, Lapsee, Kharipudi und wie sie alle heißen. Und das alles ganz allein! Ich habe seit Monaten keinen Urlaub mehr gemacht, dauernd stehe ich in diesem Laden und schufte mich ab. Und alles, woran sie denkt, ist Shopping und Kino! Und dann tippt sie mit ihren viel zu langen Fingernägeln dauernd auf diesem flachen Telefon herum. Ich könnte zusammenbrechen unter der ganzen Last, es käme ihr wahrscheinlich nicht einmal in den Sinn …«
»Ma!«
»Wäre sie nur ein bisschen wie die Mädchen zu meiner Zeit, bescheiden, gehorsam und hilfsbereit …«
»Ma, lass sie! Das ist der Lauf der Dinge. Mädchen sind heutzutage einfach anders. Jungs übrigens auch.« Ich schielte Beifall heischend zu Manju, doch die tat, als hätte sie meinen Einwand überhört.
Meine Mutter hingegen schnaubte nur verächtlich.
Es gibt nicht viele Regeln, die ein Mann beachten muss, wenn er sich in einen Streit zwischen zwei Frauen einmischt. Aber die wichtigste lautet: Halt dich um Gottes willen raus! Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, weshalb ich trotzdem weiterredete.
»Zudem kann man nicht einfach ein Bauernmädchen aus einer zurückgebliebenen Gegend wie Varanasi einfliegen lassen und dann hoffen, dass sie sich den neuen Gegebenheiten nicht anpasst, sondern unbedarft bleibt, wie sie war. Das ist naiv!«
»Was sagst du da? Naiv?« Meine Mutter legte den Kochlöffel nieder, mit dem sie wieder begonnen hatte, im Topf zu rühren, und blickte zu Manju hinüber.
»Nun …«
Synchron wandten sich beide Köpfe mir zu, während die Frauen plötzlich näher zusammenrückten.
»Naiv? Du nennst mich naiv?«
»Unbedarft? Zurückgeblieben?«
Jetzt standen sie Schulter an Schulter und starrten mich angriffslustig an.
Schachmatt.
Ich hatte es noch nie so eilig gehabt, aus dem Laden hinauszukommen.
Eine noch unschuldige Whitney Houston schmetterte ihren vorgezogenen Lebensrückblick Didn’t We Almost Have It All aus dem Jahre 1987 aus den Boxen, und ich wollte lieber nicht allzu genau wissen, was die mittlerweile von Schicksal und Drogenkonsum gebeutelte Diva damit genau gemeint hatte.
Ich hatte bereits die Flasche in der Hand, um mir ein weiteres Glas Amrut als Mittagessenersatz einzuschenken, als die Tür zu meiner Wohnung beziehungsweise meinem Büro aufgerissen wurde und José hereinstürzte. Im Schlepptau hatte er einen etwas übergewichtigen Jungen mit dünnem, blondem Haar.
»Sieh dir das an!« José zog den Jungen am Arm hinter sich her und forderte ihn ungeduldig auf, sein Handy hervorzuholen. Jetzt erkannte ich den Burschen aus dem Handyvideo, der den brutalen Vorfall am Samstagabend mitgefilmt hatte, nur trug er heute anstelle des gestreiften Pullovers ein schlabbriges T-Shirt eines nordischen Anbieters, auf dem in scheinbar willkürlicher Abfolge in keinerlei Bezug zueinander stehende Wörter und Zahlenfolgen zu entziffern waren. Vielleicht war das Ganze aber auch ein Code, der nur von Schweden entschlüsselt werden konnte.
»Hey.« Ich nickte ihm zu, doch er schien mich nicht kennenlernen zu wollen.
»Er heißt Dragan«, erklärte José an seiner Stelle und verdrehte diskret die Augen, während Dragan sich auf sein Mobiltelefon konzentrierte, auf dem er mit wichtiger Miene herumtippte. Dann platzierte er es feierlich auf meinem
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