Lichterfest
müsse man auch nicht kommen und ihn fragen, er sage nämlich nichts dazu – so der Grundtenor.
Doch diesmal wollte man alles richtig machen. Noch nie war ein Wahlkampf derart pompös und aufwendig geführt worden. Grafs Bild begegnete mir auf Schritt und Tritt. In den Zeitungen waren ganzseitige Anzeigen geschaltet, die Boulevardpresse jubelte ihn unkritisch zum wahren Retter der Schweiz hoch, Hochglanzprospekte flatterten großformatig und dutzendweise in die Haushalte, wobei die Keine-Werbung-Schilder auf den Briefkästen genauso ignoriert wurden wie die leiseren parteiinternen Stimmen, die vor einer erneuten Wahlschlappe warnten und deswegen endlich mehr auf Inhalt als auf Verpackung setzen wollten. Doch in dem ganzen Getöse, das auf ein immenses Wahlkampfbudget und dementsprechend hohe Parteispenden schließen ließ, war kein Platz für Zwischentöne.
Einst war Graf der Pitbull der Partei gewesen, der Scharfmacher, wie man ihn nannte, das beredte, äußerst engagierte Aushängeschild, das für ein paar Wählerstimmen mehr auch mal sein Fähnchen mit dem Wind flattern ließ. Doch seit einiger Zeit gab er sich jovial und gemäßigt im Vergleich zu den Hardlinern in den eigenen Parteireihen, zudem bürger- und vor allem sehr bürgerinnennah, wie man munkelte. Man sah ihn mit seiner stets stilvoll gekleideten Frau neuerdings oft auf Vernissagen, bei Kinopremieren und anderen kulturellen Anlässen – Veranstaltungen, die in seinen Kreisen sonst gemieden wurden wie Makrameekurse von den Hell’s Angels.
Viele sagten, dass er seinen politischen Erfolg zu einem Großteil seiner Frau Alice verdankte, die – wenn nicht schon früher, so ganz sicher jetzt – einen zügelnden Einfluss auf ihn ausübte. Ihn, den brachialen Wortführer der Partei, der sich selbst für die kleinste mediale Aufmerksamkeit zu politisch unkorrekten oder sogar unwahren Behauptungen hinreißen ließ. Vor allem bei sozialen Themen setzte sich Alice Graf ein, was nicht unbedingt zu den Stärken der VPRS gehörte, und verschaffte ihrem Mann dadurch Wählerstimmen aus den feindlichen Lagern.
Derart gewappnet hoffte die Rechte, bei den kommenden Wahlen endlich den begehrten und prestigeträchtigen Sitz des Stadtpräsidenten in der größten Stadt der Schweiz zu ergattern, etwas, wovon sie sich einen landesweiten Aufschwung für ihre Partei versprach. Und wie die ersten Umfragen ergeben hatten, würde sich dieser Wunsch diesmal auch erfüllen.
»Schlechter hat noch nie ein Wolf in den Schafspelz gepasst.« José deutete mit der Zigarette auf das Wahlplakat. Für eine freie Schweiz, für Zürich, für Sie – Walter Graf, stand in großen, dynamisch wirkenden Buchstaben quer über der rechten unteren Ecke.
»Die mussten ihn wohl reinquetschen.«
»Da führen die sich jahrelang als Berserker auf, sind prinzipiell gegen alles und jeden und rufen sich als Opposition aus – aber beim großen Politpoker wollen sie dann mitspielen. Ich versteh das nicht, das ist doch keine Linie.«
»Aber wer in der Politik hat denn schon eine Linie, bitte schön? Da schieben sogenannte Volksvertreter im Nationalrat dringend zu lösende Probleme vor sich her, bis sie sich endlich mühsam zu einem gemeinsamen Entscheid durchringen, von dem dann doch keiner wirklich überzeugt ist. Und keiner mag ihn so richtig unterstützen, weil er halbherzig beschlossen worden ist, wie es eben bei einem Entscheid ist, bei dem theoretisch zweihundert Politiker ihren Senf dazugeben können. Nur wenn die Wahlen bevorstehen, verfallen alle in hektischen Aktionismus.«
»Ich freue mich total auf diese Kämpfe vor den Wahlen. Sonst sind das ja alles Schnarchvereine, aber dann ist echt was los!«
»Man wünschte sich nur, sie würden sich auch zwischen den Wahlen und vor allem auch für relevantere Themen derart enthusiastisch einsetzen. Aber da traut sich dann keiner, weil jedem gewagten Vorstoß gleich von allen Seiten die Flügel gestutzt werden. Vielleicht ist dies das größte Problem in einer Demokratie: Alles ist Kompromiss.«
»Und zur Gründung einer Diktatur fehlen dir die nötigen Anhänger.«
José wiegte abwägend den Kopf. »Nun, wenn sich ein richtig cooler Diktator fände …«
Ich grinste. »Ich jedenfalls hab keine Ahnung, wen oder was ich wählen soll. Die Rechte geht prinzipiell nicht. Für die bin und bleibe ich Ausländer. Die mögen mich nur als Steuerzahler. Mich als kulturell bereichernd zu sehen, kommt denen ja nicht im Traum in den Sinn.«
Endlich war
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