Lichterfest
diese Jungs brauchen nicht wirklich einen Grund, um jemanden zu vermöbeln.«
»Und was hast du dort gemacht?«
»Muss ich mich jetzt etwa rechtfertigen?« Dragans Nasenflügel blähten sich empört.
»Ich würd’s nur gern wissen.«
Trotzig reckte er das Kinn vor. »Ich bin Regisseur.«
José wandte sich ihm überrascht zu. »Du drehst Filme?«
»Na ja, ich halt eben die Kamera drauf, wenn was passiert. Und am Escher-Wyss-Platz ist immer was los. Oder dann später, gegen Morgen vor den Klubs. Q, Supermarket, Hive, voll geil!« Er drückte begeistert auf seinem Touchscreen herum. »Hier! Guckt mal! Da spritzt echt Blut herum! Krass!« Verzückt betrachtete er das ablaufende Filmchen, während qualvolle Schreie aus den Lautsprechern drangen. »Man sieht sogar ein Stück Oberarmknochen!«
Ich winkte ab. »Herzlichen Dank! Das Machwerk eines Katastrophentouristen, der sich am Elend anderer aufgeilt, muss ich mir echt nicht reinziehen.«
Er riss den Kopf hoch und starrte mich entrüstet an. »Mann, dieser Clip wurde auf YouTube in den letzten zwei Wochen mehrere Hundert Mal angeguckt! Mein Username ist deswegen auch Dragantino. Dragan wie mein Vorname, Tarant…«
»Schwirr ab!« Ich schenkte mir endlich das Glas voll.
Unsicher guckte Dragantino José an, der meinen Befehl mit einer Geste Richtung Ausgang bekräftigte.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ließ sich José mit einem lauten Seufzer auf das Sofa fallen.
»Dragantino! Wie bescheuert ist das denn?«
»Wir werden langsam alt, nicht?« Besorgt blickte José zu mir herüber.
Ich nippte an meinem Whisky. »Wenn älter werden heißt, nicht mehr ganz so bescheuert zu sein, dann freue ich mich auf die Pension!«
»Und wir? Sind wir nicht auch bescheuert?«
»Hm.«
»Guck uns doch an. Für dich vergeht kein Tag ohne Alkohol, und ich brauche meinen Joint.«
»Einen?«
»Das sind Haarspaltereien! Tatsache ist, dass wir es ohne nicht schaffen.« José wirkte ungewohnt aufgebracht. Jetzt erst sah ich, dass er frisch rasiert war, zudem erschnupperte meine Nase ein Eau de Toilette. Das passte überhaupt nicht zu ihm. Ich begann, mir ernsthaft Sorgen um ihn zu machen.
»Was ist bloß los mit dir?«
»Man wird sich doch mal hinterfragen dürfen.«
Ich neigte abwägend den Kopf. »Die ersten vierzehn Jahre meines Lebens war ich die meiste Zeit nüchtern, und seither hat sich das Bild, das ich von der Welt habe, nicht merklich zum Besseren gewendet. Ein Drink hin und wieder …«
»Einer?«
»… sorgt für die nötige Pufferzone zwischen mir und allem da draußen.«
»Eben!« José sprang auf und wedelte mit dem Finger vor meiner Nase herum. »Das ist es! Deswegen hängen wir doch die meiste Zeit beduselt an irgendeiner Bar und halten uns die Umwelt mit bissigen Bemerkungen vom Leib.«
»Fahr bitte fort, bislang finde ich deine Ausführungen wunderbar zutreffend.«
»Wir gucken dem Lauf der Welt nur von außen zu. Zaungäste, nichts anderes. Wir lassen uns auf nichts ein, schon gar nichts Verbindliches. Keiner von uns hatte je eine längere Beziehung …«
»Ich schon!«
José runzelte die Stirn.
»Annina!«
Er blies die Backen auf. »… in der er treu war.«
»Laura!«
»Das war im Kindergarten!«
»Aber ich war ihr treu!«
»Auch nur weil das Ding zwischen deinen Beinchen noch nicht voll funktionsfähig war.«
Einen Moment lang sagte keiner etwas, nur das leise Rascheln des Zigarettenpapiers war zu hören, mit dem sich José einen Joint drehte, dazu klirrten die Eiswürfel in meinem Glas.
»Wo hast du ihn überhaupt aufgetrieben?«
Es dauerte einen Moment, bis José aufblickte. »Dragantino? In der Migros am Limmatplatz. Da verpflegen sich mittags die Schüler und Lehrlinge in diesem Food Court, oder wie das auf Neudeutsch heißt. Das ganze Einkaufszentrum riecht dann nach Pickelcreme, Schweißfüßen und Himbeerlippenstift. Da bin ich heute ein wenig rumgelaufen und hab sein Bild rumgezeigt. Einer hat ihn auf Anhieb erkannt. Viele Jugendliche hängen am Wochenende am Escher-Wyss-Platz ab.«
»Und filmen sich gegenseitig beim Rumprügeln.«
»Die langweilen sich halt.« José zuckte mit den Schultern.
Ich versuchte mich zu konzentrieren. »Der Typ hat was gesucht, das Fernando offenbar bei sich getragen hat. Irgendetwas so Wichtiges, dass er den Jungen verprügeln ließ. Vielleicht hat er es in der Eile auch einfach nicht entdeckt …«
»… und was es auch sein mag, befindet sich noch immer in seiner
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