Lichterfest
der Fußgängerstreifen frei. Ich drückte aufs Gas, lenkte meinen hellblauen VW Käfer über die etwas unübersichtliche Kreuzung und fuhr dann die Weinbergstrasse hinauf.
»Die einzige Kultur, die du bereicherst, ist diejenige der Bars im Kreis 4«, brummte José.
Zehn Minuten später standen wir erneut vor dem Unispital und beratschlagten, wie wir ungesehen zur Notfallstation gelangen könnten. Diesmal hatten wir keine Burkas dabei, die Aussicht, erneut dem hormongesteuerten Kioskbesitzer Kemal in die haarigen Finger zu laufen, hatte mich abgeschreckt. Zudem mussten wir diesmal nicht damit rechnen, in eine türkische Familienfeier zu geraten.
»Was hast du vor?«, zischte José in meinem Rücken, als ich beherzt die Eingangshalle betrat und auf die Informationstheke zusteuerte.
»Ich lass mich von meiner Intuition leiten.«
»Ein Östrogenschub? War wohl ein Bier zu viel gestern Abend?«
Ich stieß verächtlich die Luft aus und blickte mich suchend um, denn der Schalter war verwaist. Eine beinahe sakrale Stille herrschte. Freundliches Nachmittagslicht fiel durch die hohen Fenster in die Halle, die Ledersessel im Wartebereich waren leer. Umso mehr fiel der schlanke, mittelgroße Mann auf, der jetzt einen Tick zu hastig aus einem der Gänge trat und ohne sich umzusehen Richtung Ausgang strebte. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn er trug einen hellen Hut mit schwarzem Band, dazu eine Sonnenbrille, den Kopf hielt er gesenkt und übers Kinn hatte er einen beige karierten Schal gezogen. Als er an uns vorbeieilte, beugte er den Oberkörper noch tiefer und ging etwas schneller. Wie ein Tier kam er mir vor, das sich in höchster Alarmbereitschaft befand und bei der kleinsten Bewegung unsererseits zu rennen beginnen würde.
»Halt die Stellung«, flüsterte ich José zu, der sich immer noch nach einer Krankenschwester umsah, und folgte dem Mann. Als ich aus dem Eingang trat, eilte er bereits die kurze Treppe zur Straße hinunter. Doch dann blieb er abrupt stehen und nestelte ein Handy aus seiner hellen Anzugjacke. Er wollte es gerade ans Ohr führen, als meins zu klingeln begann. Wie festgefroren blieb ich stehen und ruckartig wandte sich der Mann um. Sekundenlang starrten wir uns an, und obwohl ich seine Augen hinter den verspiegelten Brillengläsern nicht sehen konnte, hatte ich das Gefühl, er risse sie auf. Er steckte das Handy zurück und drehte sich langsam um. Als er bemerkte, dass ich ihm folgte, beschleunigte er sofort. Er bewegte sich leicht und geschmeidig wie ein Langstreckenläufer. Als ich das Ende der Treppe erreicht hatte, rannte er bereits. Ohne sich umzublicken stürzte der Mann über die Straße und wurde dabei beinahe von einem herannahenden Tram erfasst. Ich fluchte, während ich wie ein adrenalingebeutelter Joggingfanatiker auf der Stelle springend wartete, bis die Straßenbahn vorbeigefahren war.
Der Mann war auf das ETH-Gebäude zugelaufen. Ich war bemüht aufzuholen, während er die Hochschule betrat und eilig die riesige, von Säulen gesäumte Halle durchquerte, um dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinauszuflitzen, auf die für eine zwinglianisch geprägte Stadt geradezu verschwenderisch weitläufige Polyterrasse. Die Aussicht über Zürich im bronzenen Schein der Nachmittagssonne war atemberaubend, doch ich keuchte aus einem ganz anderen Grund: Nach knapp anderthalb Minuten war meine Kondition bereits im Eimer und ich schnappte nach Luft wie ein Allergiker im Heuhaufen.
Die ersten Schweißtropfen liefen mir kitzelnd über die Schläfen, als ich über die Terrasse spurtete und scharf rechts abbog. Ich trippelte eine Treppe mit unmöglich flachen Stufen, die zu breit waren, um sie mit einem Schritt zu schaffen, hinunter. Als ich das Fußende der Treppe erreicht hatte, war der Mann verschwunden. Ohne zu überlegen setzte ich über das schmale Sträßchen hinweg und hetzte einen jäh abfallenden Fußgängerweg zum Seilergraben hinunter. Unten angekommen zitterten meine Knie, aber ich entdeckte den Flüchtigen zu meiner Erleichterung auf der anderen Seite der stark befahrenen Straße.
Nur kurz blickte er zurück, bevor er weiterrannte, über einen Zebrastreifen Richtung Kunsthaus, dann verschwand er in einem schmalen Durchgang oberhalb der Zentralbibliothek. Ich jagte ihm hinterher und entkam nur knapp einem heranbrausenden Auto. Das empörte Hupen dröhnte weiterhin in meinen Ohren, als ich dem Mann in die enge Passage folgte, die zwischen den glatten Fassaden
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