Lichterfest
durch ihre dicken Brillengläser kaum etwas erkennen konnte oder weil sie zu klein war, um über ihren Gepäckhaufen hinwegzusehen. Als wir jedoch ihren Namen riefen, kam sie eilig auf meine Mutter zugetrippelt, während es in ihrem Gesicht verdächtig zu zucken begann. Noch bevor sich die beiden Frauen in die Arme fielen, liefen ihr die Tränen bereits in Strömen über die Wangen. Meine Mutter schien einen Augenblick lang unschlüssig, dann erachtete sie es wohl als das Beste, auch mit Weinen zu beginnen. Ich fragte mich, ob sie es aus purer Wiedersehensfreude tat oder als verspätete Beileidsbekundung, aus Mitgefühl wegen der erlittenen Strapazen während der Reise oder wegen des ungenießbaren Flugzeugessens. Selbst nach all den Jahren praktischer Erfahrung verfügte ich über keine komplette Liste der mannigfaltigen Beweggründe, welche indische Frauen so oft und leidenschaftlich gern weinen ließen. Vielleicht wusste meine Mutter auch ganz einfach nicht, was sie sagen sollte.
Nach einer angemessenen Zeit gemeinsamen Tränen vergießens wandte sich das Tantchen mir zu und drückte ihr Gesicht an meine Brust. Nachdem sie ihren Gesichtspuder gleichmäßig auf meinem Hemd verteilt hatte, schnäuzte sie sich umständlich, tätschelte mir den Arm und hängte sich bei meiner Mutter ein.
» Bhabhiji, Schwägerin, kaisi hai? Wie geht’s dir? Du siehst gut aus, als wärst du keinen Tag älter geworden seit deinem letzten Besuch in Indien«, schmeichelte sie meiner Mutter. »Hast du was machen lassen?«, schob sie lauernd nach, worauf diese entsetzt den Kopf schüttelte. »Man könnte meinen, du seist eine Schweizerin geworden, so hell und rein, wie deine Haut ist. Könnten wir uns diese teuren Pflegeprodukte bloß auch leisten …« Sie seufzte und machte eine vielsagende Pause.
Ich glaubte, kurz das Rasseln einer Klapperschlange gehört zu haben, aber vielleicht hatte ich mich auch geirrt. Der unterschwellig giftige Ton war meiner Mutter genauso wenig entgangen. Peinlich berührt wand sie sich, während Auntie Bahula zischelnd weitersäuselte. »Aber dich erdrücken ja auch keine Sorgen. Du lebst in einem reichen Land und dir geht es gut, Bhabhi, dir geht es so gut. Nicht wie uns. Jetzt, da ich allein bin, ist es noch schwieriger geworden«, flüsterte sie. »Es ist nicht leicht für eine Witwe in Indien, weißt du? Früher hat mein Mann alles erledigt, jetzt fühle ich mich so hilflos ohne ihn. Nur schrittweise lerne ich, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Unserer Generation Frauen hat das keiner beigebracht. Meine Töchter, ja, denen schon, aber die studieren und leben ihr eigenes Leben.« Sie seufzte erneut und blieb stehen. »Aber was belaste ich dich da mit meinen Sorgen. Du hast deinen Laden, und hier in der Schweiz muss es einfach wunderbar sein. Da würde ich auch nicht mehr so häufig nach Indien zurückkommen. Die Unterkunft in unserer bescheidenen, engen Wohnung, das einfache Essen, die harten Betten, es ist mir schon klar, dass euch das jetzt anwidert. Ihr seid das ja gar nicht mehr gewohnt. Und die Armut, der ganze Schmutz und die hungrigen, verstümmelten Bettlerkinder, wer will das schon sehen? Ich würde das alles auch hinter mir lassen wollen. Sicher habt ihr viele Freunde, Schweizer Freunde, wer braucht sich da noch mit armen Verwandten aus einem Dritte-Welt-Land abzugeben?«
Ohne Unterlass redete sie weiter, während meine Mutter sie Richtung Rolltreppen dirigierte. So war das mit vielen Verwandten aus Indien: Sie glaubten, die Schweiz sei das Land, in dem Milch und Honig fließe, wo Wohlstand und wahrscheinlich sogar Glück ein Geburtsrecht sei. Meine El tern bekräftigten diese Vorstellung, indem sie, vom schlechten Gewissen geplagt, bei jeder Reise in die alte Heimat immer noch teurere, noch protzigere Geschenke mitbrachten.
Ich blickte den beiden Frauen hinterher. Wie hineinretuschiert sahen sie aus mit ihren leuchtend bunten Saris, die in der matten Beleuchtung der schmucklosen Ankunftshalle grell leuchteten, aus einer völlig anderen Welt importiert, und doch berührte mich die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich hier bewegten, als hätten sie nie etwas anderes gemacht.
Ich wusste, dass die nächsten Wochen schwierig werden würden, vor allem für meine Mutter. Mit Auntie Bahula hatte sie sich eine ebenbürtige Gegnerin ins Haus geholt. Selbst schuld.
Ich zündete mir eine Zigarette an, als mir auffiel, dass Auntie Bahula ihr Gepäck einfach hatte stehen lassen. Jetzt war es
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