Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
umfasst.
»Das wirst du noch bereuen«, fauchte Jil Cryson entgegen.
»Das glaube ich kaum.« Er ließ sich auf einen gepolsterten Sessel neben einem messingfarbenen Ofen fallen, aus dessen Oberseite Rohre ragten, die an der Wand entlang bis zur Decke führten und schließlich darin verschwanden.
Jil zog die Knie bis unter ihr Kinn und umfasste ihre Beine mit beiden Armen. Sie rang mit den Tränen, aber es waren Tränen der Wut. Diese ausweglose Situation erweckte Aggressionen in ihr, vor denen sich selbst ihr Vater gefürchtet hätte.
»Was hast du mit mir vor? Und wo sind wir hier? Ist das eine Fabrik?« Ihre Stimme kippte vor Aufregung. Cryson hingegen drehte ihr nur langsam den Kopf zu und runzelte die Stirn.
»Das ist Sedhia, eine Stadt unterhalb von Haven.«
»Und wie kommt es, dass ich niemals davon erfahren habe? So etwas bleibt für gewöhnlich nicht verborgen.« Sie funkelte ihn böse an.
»Die Menschen wissen nichts davon, weil sie blind dafür sind.«
»Menschen? Was soll das bedeuten? Willst du mir erzählen, du bist etwas anderes als ein Mensch?«
Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, das Jil nicht zu deuten imstande war. »Würdest du es mir denn glauben, wenn ich es behauptete?«
»Weißt du, was ich denke? Ich denke, das hier ist eine Irrenanstalt und irgendwie hast du es geschafft, hinaus zu gelangen«, schrie Jil ihm entgegen. Sie griff nach einem der zahlreichen Kissen auf dem Bett und warf es Cryson entgegen. Mit einem süffisanten Grinsen fing er es auf.
»Was hast du vor? Mich damit zu erschlagen?« Er lachte. »Ach Jil, du faszinierst mich noch immer. Du bist eine starke Frau, aber auch du musst irgendwann einmal erkennen, wo deine Grenzen liegen.« Er erhob sich aus dem Sessel, nahm einen weiteren kleinen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete damit die Tür in der Wand. »Ich hätte dir heute gerne mehr erklärt, aber wie ich sehe, bist du einfach noch nicht so weit. Du kannst dich noch nicht dafür öffnen.«
Er wandte sich ab.
»Kannst du mir vielleicht wenigstens verraten, wie lange ich hier bleiben muss? Und wer kümmert sich jetzt um meine Familie?«
Cryson drehte sich über die Schulter hinweg zu ihr um. »Du wirst so lange hier bleiben, bis du für deine Aufgabe bereit bist. Es liegt an dir, wie lange es dauert. Und um deine Familie brauchst du dich nicht zu sorgen. Mach dir keine Gedanken, die sorgen sich doch auch nicht um dich. Fang endlich an, etwas für dich selbst zu tun.« Er zwinkerte ihr zu und verschloss die Tür hinter sich.
*****
Mit einem kratzenden Geräusch glitt die Spitze des Brieföffners über die massive dunkle Holzplatte des Tisches. Jil hatte nie gut zeichnen können, aber allmählich begannen die Kerben im Holz ein hübsches Muster zu ergeben. Die vergangenen Tage waren derart monoton verlaufen, dass sich Jils Aggressionen allmählich in Verbitterung gewandelt hatten. Wenn man sie schon nicht nach ihrer Meinung fragte, wollte sie wenigstens die Möbelstücke drangsalieren. Noch immer wusste sie nicht, weshalb Cryson sie hier festhielt und auch das Tageslicht hatte sie seither nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Sie legte den Brieföffner zurück in die Schublade, strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und zog den Bademantel enger um ihre Schultern. Es fehlte ihr hier an nichts. Sie konnte ein heißes Bad nehmen, wann immer sie wollte. Endra, eine Frau, die neben Cryson zu ihrer einzigen Bezugsperson geworden war, erfüllte ihr jeden Wunsch. Jil vermutete, dass sie so etwas wie ein Hausmädchen für Cryson war. Sie sprach nur wenig. Auch bei ihr hatte Jil die übermenschlich schnellen Bewegungen und das gelbliche Flackern in den Augen bemerkt. Mittlerweile wunderte sie sich nicht mehr darüber.
Das Zimmer, in dem Cryson sie gefangen hielt, war luxuriös ausgestattet, verfügte sogar über elektrisches Licht. Es war immer warm und niemals zugig. Dreimal am Tag brachte man Jil etwas zu essen. Es waren üppige Mahlzeiten mit exotischen Gewürzen, die Jil völlig fremd waren. Sogar Süßigkeiten und Zigaretten brachte man ihr, wenn sie danach verlangte. Am meisten begeisterten sie jedoch die modernen sanitären Anlagen, die mit frischem Wasser gespeist wurden. Jil hatte früher schon davon gehört, dass es öffentliche Badehäuser gab und die Menschen auf Falcon’s Eye sogar über eigene Badezimmer innerhalb ihrer Häuser verfügten, selbst hatte sie so etwas jedoch nie gesehen. Obwohl sich Jil Cryson gegenüber immer noch unnahbar
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